Gebärdensprache und
Kommunikation Gehörloser
Foto: UHH/Denstorf
24. April 2024
Foto: UHH/IDGS
In der Bibliothek für Deutsche Gebärdensprache werden mit internationalem Fokus Medien zur Linguistik der Gebärdensprachen, Gehörlosenkultur, Gehörlosenpädagogik, Gebärdensprachdolmetschen, Gebärdensprachlehre u.ä. gesammelt.
Mit dieser einzigartigen Sammlung ist die Bibliothek des IDGS international bekannt. Was viele Menschen jedoch nicht wissen: In der Bibliothek befindet sich auch das sogenannte „Biesold-Archiv“, eine umfangreiche Sammlung von Forschungsdaten, zusammengetragen und dem IDGS überlassen von Dr. Horst Biesold (1939-2000), der sich im Rahmen seiner Doktorarbeit mit dem rassehygienischen „Gesetz zur Verhütung erbranken Nachwuchses“ von 1933 und dessen Auswirkungen auf die Gehörlosengemeinschaft in Deutschland auseinandergesetzt hat.
Am 24. April 2024 gab der Leiter der Bibliothek, Guido Joachim, vor Studierenden und Mitarbeitenden des IDGS eine Einführung in dieses Archiv.
Mit seiner Präsentation nahm uns Guido Joachim mit auf eine bedrückende Zeitreise in eines der düstersten Kapitel deutscher Geschichte. Zunächst stellte er das betreffende Gesetz in einen Zusammenhang mit der damaligen politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland:
Taube Menschen wurden damals im Rahmen der sogenannten „Rassenhygiene“ neben weiteren Personengruppen von den Nationalsozialisten als „Erbkranke“ stigmatisiert, die nicht zur Weitergabe von Leben berechtigt seien. Sie wurden aufgefordert, sich freiwillig zur Sterilisation in einem Krankenhaus einzufinden. Wer dieser Anordnung nicht folgte, wurde dem Eingriff in vielen Fällen unter Zwang zugeführt.
Nach dem Eingriff wurden die Opfer dazu angehalten, mit niemandem darüber zu reden.
Biesold, Historiker und Gehörlosenlehrer aus Bremen, war in den frühen 1980er Jahren durch ungewollt kinderlose taube Bekannte auf das Thema Zwangssterilisationen bei Gehörlosen im Nationalsozialismus aufmerksam gemacht worden. Für weitere Recherchen hatte er über die Sendung „Sehen statt Hören“ und die Deutsche Gehörlosenzeitung dazu aufgerufen, sich ihm anzuvertrauen, um ihm von dem erlittenen Unrecht zu berichten. Mehr als 2.000 Betroffene meldeten sich daraufhin bei ihm. Mittels Fragebögen und behutsamen Interviews gelang es ihm, dass die Betroffenen nach 40 Jahren des Schweigens ihr Leid offenbarten.
Auch Horst Biesold selbst kam im gezeigten Film zu Wort und berichtete über die oft qualvollen Erlebnisse der Betroffenen, aber auch von massiven Barrieren, die ihm seitens der Gehörlosenschulen während der Recherche in den Weg gelegt wurden, sowie die Schwierigkeiten seitens der Betroffenen, Schadensersatzansprüche geltend machen zu können.
Besonders erschütterte die Besucher:innen des Vortrags die Filmsequenzen, in denen Betroffene darüber berichteten, was ihnen, meist unter Zwang, angetan wurde.
Erst durch Biesolds Forschung wurde aufgedeckt, was tauben Menschen im Nationalsozialismus angetan wurde:
Ganze Klassen von Schüler:innen wurden von ihren Schuldirektor:innen zur Sterilisation geschickt, die meisten Betroffenen waren also zum Zeitpunkt des Eingriffs noch minderjährig. Aber auch taube Menschen, die keine Gehörlosenschulen besuchten, wurden - überwiegend von den Gesundheitsämtern oder der NSDAP - gemeldet. Doppelt zum Opfer fielen den Ärzt:innen die schwangeren tauben Frauen: Noch bis zum neunten Monat kam vor der Zwangssterilisierung oftmals die Zwangsabtreibung.
Taube Menschen wurden systematisch sterilisiert und litten nach dem Eingriff meist ihr Leben lang unter Schmerzen, Depressionen und Schamgefühlen.
Das Archiv steht der Forschungsgemeinschaft nach Absprache zu den normalen Öffnungszeiten der Bibliothek zur Verfügung. Wer im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit Einsicht in die dort lagernden Daten bekommen möchte, wende sich bitte an Guido Joachim, damit vorab eine Nutzungsvereinbarung geschlossen werden kann.
Nach dem Vortrag gab es einen regen Austausch und es wurde unter Anderem der Wunsch formuliert, das Archiv zu digitalisieren, um dieses einzigartige Zeugnis über das Unrecht gegenüber tauben Menschen nachhaltig zu schützen und der Forschungsgemeinschaft digital eröffnen zu können.
Biesolds Dissertation erschien 1988 unter dem Titel : „Klagende Hände. Betroffenheit und Spätfolgen in Bezug auf das Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses, dargestellt am Beispiel der ,Taubstummen’.“
Ein persönlicher Bericht von Simon Kollien in DGS ist unter diesem Link zu sehen.
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