Taube Menschen in der DDR
Taube Menschen zur Zeit der DDR (Katja Fischer, 2010)
Übersetzung
Hinter mir sehen Sie den Berliner Fernsehturm, daneben den Plattenbau, früher auch Neubau genannt, und rechts davon das Rote Rathaus. Die Gegend dort gehörte früher zu Ost-Berlin. Der Turm und der Plattenbau sind Bauwerke aus der DDR-Zeit und halten somit die Erinnerung an die deutsche Teilung wach.
Die DDR wurde am 7.Oktober 1949 gegründet und existierte 40 Jahre. Ziel der DDR-Regierung war es, den Sozialismus zu fördern, alle Menschen in Arbeit zu bringen und dabei die Gleichstellung von Mann und Frau zu gewähren. Auch die Förderung der Kinder war dem System wichtig: Die staatliche Erziehung reichte von der Kinderkrippe über den Kindergarten zur Schule bis hin zur Berufstätigkeit. Wer studierte, verdiente nicht automatisch mehr. Manchmal war es sogar so, dass Arbeitnehmer ohne Studium mehr verdienten als Akademiker.
Die Kleidung und Ernährung der DDR-Bürger war sehr einheitlich, da alle Konsumgüter für die Bevölkerung einheitlich produziert wurden. Marken-Kleidung, wie z.B. eine Jacke von „Jack Wolfskin“ oder eine Jeans von „Levi’s“ waren deshalb in der DDR nicht erhältlich, ebenso wenig wie Bananen. Westware, wie z.B. Kleidung, Schokolade oder Farbfernsehgeräte wurde nur unregelmäßig angeboten und war heiß begehrt. Oft standen die Leute dafür in langen Warteschlangen an und gingen trotzdem manchmal leer aus, weil die Artikel schnell vergriffen waren. Restbestände kamen dann nach Berlin und wurden z.B. hier im Nicolai-Viertel verkauft.
In der DDR gab es Gehörlosenschulen in Güstrow, Berlin, Halle, Leipzig, Dresden und Erfurt. Darunter waren einige Gemeinschaftsschulen, an denen gehörlose und schwerhörige Schüler gemeinsam unterrichtet wurden. Dazu mussten die Schwerhörigen aber auch die Gebärdensprache beherrschen. Das Organ für taube Menschen in der DDR war der „Gehörlosen- und Schwerhörigenverband e.V.“ (GSV). In den Vorstandsreihen saßen hauptsächlich Schwerhörige, Gehörlose waren dort nur wenig vertreten. Der GSV löste sich im Zuge der Deutschen Wiedervereinigung auf.
An den Gehörlosenschulen wurden auch die „Spartakiade“ und „Mathematik-Olympiade“ durchführt. Dazu kamen einmal jährlich die besten Schülerinnen und Schüler aller Gehörlosenschulen der DDR zusammen, um sich im Sport bzw. in der Mathematik miteinander zu messen. Diese landesweiten Vergleichswettkämpfe umfassten die Jahrgänge von der zweiten bis zur zehnten Klasse und wurden immer abwechselnd an einem der genannten Schulstandorte ausgetragen. Diese Veranstaltungen waren immer toll, auch weil wir Gehörlosen alle zusammen kamen. Man traf dort alte Freunde und hatte sich viel zu erzählen. Aufgrund dieser regelmäßigen landesweiten Treffen gab es in der DDR auch nicht so starke dialektale Unterschiede in der Gebärdensprache wie im Westen.
Die DDR-Führung legte viel Wert auf die sozialistische Gesinnung jedes Bürgers. Diese wurde bereits systematisch im Kindes-und Jugendalter angelegt, durch die Vereinigungen „Junge Poniere“ und „Freie Deutsche Jugend (FDJ)“. Kinder aus der ersten bis einschließlich vierten Klasse waren Mitglieder bei den „Jungen Pionieren“. Ihre Uniform bei den bestand aus einem weißen Hemd mit einem blauen Halstuch und einer blauen Hose, bzw. einem blauen Rock für Mädchen. Jugendliche von der fünften bis zur siebten Klasse trugen die gleiche Uniform mit einem rotes Halstuch und hießen „Thälmann-Pioniere“, benannt nach dem Kommunisten Ernst Thälmann. Von der achten bis zur zehnten Klasse und bis in die Berufsausbildung hinein war man Mitglied der FDJ. Der Übergang vom „Thälmann-Pionier“ zum FDJ-Mitglied war mit der sogenannten „Jugendweihe“ verbunden. Dazu musste man über ein Jahr verteilt bestimmte Organisationen und Orte besuchen, wie z.B. einen Gehörlosenverband, eine KZ-Gedenkstätte und Vieles mehr. Am Ende wurde dann die Jugendweihe als Festakt vor großem Publikum vollzogen.
Die Gebärdensprache wurde an den Gehörlosenschulen höchstens außerhalb des Unterrichts in den Pausen benutzt.
Zu bestimmten Versammlungen in der Schule, wie z.B. dem Morgenappell, mussten sich alle Schülerinnen und Schüler in ihren Uniformen in einer Reihe auf dem Schulhof aufstellen. Wer besonders gut sprechen konnte, musste vortreten und etwas vortragen. Beim Morgenappell zur ersten Unterrichtsstunde grüßte man als Mitglied der FDJ mit einem mehrfachen „Freundschaft!“, wobei die rechte Faust hochgehalten wurde. So wurden wir damals mit der Staatsideologie infiltriert.
Die Entwicklungen kurz vor dem Mauerfall waren auch für mich sehr interessant. Ich lebte damals in Leipzig und besuchte dort die Gehörlosenschule. Wir bekamen mit, dass in Leipzig Unruhen entstanden: Die Bevölkerung demonstrierte in den Straßen, viele Menschen wurden deshalb verhaftet. Mein Lehrer verbot uns, in die Stadt zu gehen. Ich war ja noch sehr jung und die Situation machte mir Angst, also befolgte ich die Anweisung meines Lehrers. Dann ging ich nach Dresden, um dort meine Ausbildung zur Zahntechnikerin zu beginnen. Erst dort erfuhr ich, wie groß die Demonstrationen inzwischen in Leipzig und Dresden geworden waren. Das Volk war sehr aufgebracht und forderte Freiheit und die Aufhebung der Reisebeschränkung auf sozialistische Länder. Schließlich durften DDR-Bürger nur in andere sozialistische Länder wie z.B. Ungarn, Bulgarien, Polen, die Tschechoslowakei und die Sowjetunion reisen. Auch die zahlreichen persönlichen Einschränkungen, z.B. in Bezug auf Kleidung und andere Dinge des täglichen Bedarfs, wollten viele Menschen nicht mehr länger hinnehmen. Anfänglich noch mit einem unguten Gefühl schlossen sich nun auch immer häufiger Gehörlose den Protesten an. In der Leipziger Nikolaikirche gab es einen Pfarrer namens Weithaas, der auch an der Gehörlosenschule bekannt war. In seiner Kirchengruppe waren auch einige Gehörlose. Weithaas war Kind gehörloser Eltern und konnte gebärden und den Gehörlosen die Geschehnisse erklären. So konnte man sich unbeobachtet in der Gruppe informieren und über die aktuelle Lage austauschen. Als sich immer mehr Gehörlose den Demonstrationen und den Gottesdiensten in der Nikolaikirche anschlossen, reagierte Weithaas prompt, indem er die Redebeiträge innerhalb der Kirchenmauern selbst dolmetschte. Für die Gehörlosen war das großartig, zumal man ihnen in der hoffnungslos überfüllten Kirche immer ausreichend Sitzplätze in den vorderen Reihen reservierte! Viele andere Menschen standen bis weit auf die Straße!
In Dresden nahmen auch einige Gehörlose und ich an den Demonstrationen teil, obwohl man auch dort Gefahr lief, polizeiliche Gewalt zu spüren zu bekommen bzw. verhaftet zu werden. Der Demonstrationszug, in den ich mich einreihte, war riesengroß-und auch in mir erwachte dabei die Euphorie, genauso wie bei vielen anderen Demonstranten, die spürten, dass die dunkle Zeit der DDR kurz vor ihrem Ende stand. Diese Demonstrationen fanden im September und Oktober 1989 statt. Kurz zuvor, im August, flohen bereits viele DDR-Bürger über Ungarn und Österreich in den Westen, da die ungarisch-österreichische Grenze dort für kurze Zeit geöffnet wurde . Unter den Gehörlosen gab es auch viele, die die Flucht über die DDR-BRD-Grenze nicht wagten. Aber sehr viele nutzten das Schlupfloch über Ungarn und Österreich. Am 9. November 1989 fiel dann die Berliner Mauer, was für eine Befreiung! Das Land war im Freudentaumel und die Menschen lagen sich in den Armen. Ich erfuhr davon in Dresden, wo ich im Rahmen meiner Zahntechnikerausbildung im Internat untergebracht war. Im Fernseher sahen wir die Nachrichten mit Untertitel, die wir Gehörlosen aber nicht ganz verstanden. Wir warteten also erstmal ab. Als wir am nächsten Morgen in die Schule kamen, waren alle in heller Aufregung: Lehrer und Schüler waren voller Freude und konnten die Neuigkeit kaum fassen. „Die Mauer ist gefallen!“ riefen alle durcheinander. Da begriffen auch wir, dass das System der DDR endgültig vorbei war. Die Lehrer, die sich vor der Wende noch als linientreue Sozialisten verhalten hatten und uns die DDR-Ideologie eingetrichtert hatten, waren nun wie ausgewechselt und freuten sich mit uns.
Trotz der positiven Ereignisse im Zuge der Wiedervereinigung dürfen traurig stimmende Aspekte der damaligen Zeit nicht unerwähnt bleiben. Es gab einige Gehörlose, denen die Flucht in den Westen zu Verwandten oder Freunden gelang, z.B. im Rahmen einer Teilnahme an einer Gehörlosensportveranstaltung oder weil sie an einer Familienfeier im Westen eingeladen waren, später auch durch die Flucht über Ungarn. Besuche im Westen war streng geregelt. Es konnte immer nur ein Familienmitglied ausreisen, nie die gesamte Familie. Gehörlose, die geflohen sind, mussten daher ihre Angehörigen sowie persönliche Gegenstände und Erinnerungsstücke in der DDR zurück lassen. Nach der Wende sind viele von ihnen in ihre alte ostdeutsche Heimat zurückgekehrt, um ihre zurück gelassenen Dinge zu suchen, doch oft blieben diese persönlichen Schätze verschwunden.
Das Wirtschaftssystem der DDR war eine Planwirtschaft und musste nun umstrukturiert werden. Schnell traten nach der Wiedervereinigung am 3.Oktober 1990 viele Reformen in Kraft, deren Auswirkungen man zunächst unterschätzte. Das gewohnte System, das Vertrauen in klare Hierarchien und Anweisungen von „Oben“ ohne Wahlfreiheit war in den Ostdeutschen noch fest verankert. Ein demokratisches Verständnis, wie es im Westen herrschte, musste sich erst langsam entwickeln und so ist auch heute noch, über 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, der Prozess des Zusammenwachsens noch nicht vollständig abgeschlossen.
Nach der Wende wurden auch Stück für Stück viele vernachlässigte Gebäude in Ostdeutschland in Stand gesetzt und modernisiert. Und auch im Verbandswesen für Gehörlose gab es durch die Wiedervereinigung Veränderungen: Der GSV löste sich im Zuge der Zusammenlegung mit dem DGB auf und der „Förderverein der Gehörlosen der neuen Bundesländer e.V.“ wurde neu gegründet, um die ostdeutschen Gehörlosen in ihrer Entwicklung nach der Wiedervereinigung zu unterstützen- dieser Verein besteht auch heute noch, woran wir auch sehen, dass die Auswirkungen der DDR-Zeit noch immer anhalten.
Die Jüngeren erleben das wiedervereinigte Deutschland als Normalzustand und haben sich den neuen Strukturen problemlos angepasst. Der älteren Generation fällt es dagegen nicht immer leicht, die alten Strukturen loszulassen.
___
Übersetzung: Britta Harms und Michaela Matthaei