Erfahrungsbericht 1: Schulzeit und Strafen
Erinnerungen an meine Schulzeit und Strafen (Heinrich Kelsch, 2011)
Übersetzung
Meine Mutter war taubstumm, mein Vater hörend.
Ich habe die Schule in Schleswig besucht. Ich bin in Folge eines Sturzes spätertaubt. Meine Mutter, die selbst in Schleswig zur Schule gegangen war, wollte mich lieber zu Hause behalten, denn sie hatte Angst, dass ich in der Schule misshandelt werden würde. Die Sozialbehörde zwang sie aber dazu, und so wurde ich dort hingegeben.
Dank des Artikulationstrainings dort konnte ich mein Sprechen verbessern und ich lernte auch das Lesen und Schreiben.
Was hätte ich bloß gemacht, wenn mich meine Mutter zuhause versteckt gehalten hätte? Da wäre ich doch dumm geblieben!
Ach ja..., in der Schule habe ich vor einem Spiegel gesessen und das lautsprachliche Artikulieren geübt...z.B. das „H“ wie es in „haben“ vorkommt. Die Lehrer waren sehr streng und das Essen schlecht. Ich musste auch Strafarbeiten verrichten. Die Ausflüge waren prima, da ging es dann in den Wald, wo wir essbares Unkraut sammelten und zum Mittag aßen.
Ich erinnere mich noch an eine Sache nach dem Krieg, das war wirklich gemein: Das Essen zur Schulspeisung wurde uns aus Dänemark gebracht, in einem riesengroßen Topf. Jedes Kind bekam nur einen Teller voll. Die Lehrer brachten aber immer jeder einen eigenen Topf mit und füllten ihn sich voll, um damit auch noch zuhause die Familie mit zu versorgen! Und wir hatten doch so einen Hunger!
Abends gab es für jeden zwei Scheiben Schwarzbrot mit Käse und manchmal waren Würmer im Käse und ich musste ihn essen. Wenn ich ihn nicht gegessen hätte, hätte ich mich zur Strafe in die Ecke stellen müssen oder am nächsten Morgen kein Frühstück bekommen. Das war so um 1946/1947.
Viele von uns konnten abends im Schlafsaal vor Hunger nicht einschlafen. Wir sind dann nach unten geschlichen bis in den Keller, und durch das kleine Toilettenfenster in den Garten gestiegen, wo es Möhren gab, die haben wir gegessen.
Morgens, wenn uns die Aufsicht weckte, schauten sie uns aber ganz genau an, und wer einen gelben Mund hatte, bekam kein Frühstück! (lacht) Ja, manchmal erwischten sie einen doch!
Auf dieselbe Weise klauten wir abends auch Äpfel aus dem Garten und versteckten sie, nachdem wir uns satt gegessen hatten, unter der Bettdecke. Dabei wurde ich aber auch erwischt und es hagelte wieder Strafen.
Dann erinnere ich mich noch an ein besonderes Ereignis: An Sonntagen, wo ein Lehrer oder eine Lehrerin Geburtstag hatten, wurde ein Kuchen gebacken. Der stand dann in der Speisekammer. Durch das Fenster, das leicht geöffnet war, konnten mein Schulkamerad und ich eine köstliche Torte sehen. Wir haben uns eine Blechdose beschafft, daraus eine Schablone geschnitten und diese an einen langen Stock genagelt. Mit diesem Ding konnten wir den Kuchen aus dem halbgeöffneten Fenster angeln und dann den ganzen Kuchen aufessen! So kugelrund gefuttert, konnten wir bei der nächsten Mahlzeit noch keinen Bissen essen und darum sind wir aufgeflogen. Zur Strafe durften wir drei Tage nichts essen.
Ja, es gab viele Strafen (zuckt bei der Erinnerung zusammen)
Und beim Brotholen... dazu fuhren immer zwei Schüler mit dem Bollerwagen ins nächste Dorf zum Bäcker. Man bekam dazu einen Zettel mit, auf dem stand, wie viele Brote man uns einpacken sollte. Beim nächsten Mal, als mein Freund und ich an der Reihe waren, nahmen wir einen Bleistift und ein Radiergummi mit und korrigierten unterwegs die Zahl der Brote um Zwei nach oben. Die zwei zusätzlichen Brote versteckten wir im dunklen Kellerflur unter einer Bank. Oben prüfte man unsere Lieferung und war zufrieden mit uns, denn die Zahl der bestellten Brote stimmte genau. Aber auf der Monatsrechnung vom Bäcker waren dann 2 Brote mehr verrechnet, deren Verbleib nicht klar war. Da sind wir doch noch hochgegangen.
Nachts, gegen 11 oder 12 Uhr holten wir die Brote aus dem Versteck und verteilten es untereinander.
Frage von Stefan: Wann konntest du nach Hause?
Man blieb eigentlich die ganze Zeit im Internat. Nur in den Ferien um Weihnachten, Ostern und im Sommer durften wir nach Hause.
Frage von Stefan: Wurde in der Schule damals auch gebärdet?
Nein, da wurde nur gesprochen.
Frage von Stefan: Gab es an der Schule Bestrafungen?
Naja, man wurde geschlagen, wenn man unartig war. Da war nichts zu machen. Ich bin dankbar dafür. Hätten sie mich nicht bestraft, wäre ich ja immer weiter unartig gewesen. Nein, das war schon richtig.
Nur an meinem Gesäß habe ich etwas nachbehalten, wegen einer Strafe für eine große Dummheit: Nach der Kapitulation 1945/46 war Schleswig voller Schuttberge aus Trümmern und Müll. Darin suchten wir nach Patronenhülsen. Es gab eine Fabrik in Schleswig, wo Feuerzeuge daraus hergestellt wurden, das hat mich interessiert, deshalb wollte ich auch Patronenhülsen sammeln. An einem Sonntag wollte ich vor der Taubstummenanstalt auf der Terrasse eine Patrone mit einem Stein zerschlagen, sie zerbrach mit einem Knall. Nebenan war eine Kaserne mit englischen Soldaten. Das Dumme dabei war, dass mich die Aufsicht der Kaserne bei meinem Lehrer verpfiff. Der war stinkwütend! Zur Strafe musste ich mich am nächsten Tag vor das Pult stellen, die Hände auf die Platte gelegt, bekam von meinem Lehrer vier brutale Schläge mit einem Vierkantholz auf den Po. Dabei ist mein Steißbein gebrochen, was mir bis heute Beschwerden bereitet, das war wirklich sehr schlimm... Aber was hätte ich den Lehrer verklagen sollen, der ist ja längst tot.
Obwohl ja nichts passiert war und ich die englischen Soldaten nicht gefährdet hatte, hatte man mich bestraft. Um die Ecke stand ein Bollerwagen randvoll mit Patronenhülsen. Den hatte man auch mit mir in Verbindung gebracht.
Tja, wir waren eben Kinder, ich war damals 14 Jahre alt.
Und dann wurde ich eines sexuellen Überbegriffs bezichtigt und von der Schule verwiesen. Dabei war ich zu 100% unschuldig. Ich war fassungslos, denn an den Vorwürfen war nichts Wahres dran! Ich hatte niemanden belästigt! Trotzdem: Ich musste ein Jahr zuhause bleiben. Meine Klassenkameradin Sonja wurde auch der Schule verwiesen wegen ihres angeblich „aggressiven Verhaltens“. Aber wir hatten beide nichts verbrochen. Nach einem Jahr durfte ich wieder zurück. Es war zu der Zeit, als wir alle konfirmiert wurden. Deshalb hatten alle neue Anzüge und Hemden bekommen, nur ich hatte keinen. Meine Mutter färbte notgedrungen eine alte Ziviluniform meines Vaters schwarz. So hatte ich etwas zum Anziehen. Bei der Feier waren nur meine Mutter und meine Oma anwesend, mein Vater nicht. Meine Oma war von den vielen taubstummen Schülern ganz beeindruckt und war erstaunt, wie sie miteinander in Gebärdensprache redeten.
Mit dem Zeugnis hatte ich großes Glück: Als ich von der Schule mein Entlassungszeugnis bekam, war darin vermerkt worden, dass ich wegen eines sexuellen Übergriffs aufgefallen war. Als mein Vater das las, schickte er das Zeugnis mit einer Beschwerde zurück. Der Vermerk wurde dann aus dem Zeugnis gelöscht.
Und meine Oma schimpfte auch einmal sehr mit meinem Vater! Das war auf ihrem Geburtstag: Meine Mutter und ich waren die einzigen Gehörlosen, da wäre es doch langweilig gewesen, nur herumzusitzen und nichts mitzubekommen, was die anderen sprechen! Deshalb plauderten meine Mutter und ich miteinander in Gebärden. Als mein Vater das sah, wurde er sehr wütend und schrie uns an: „Hört auf damit!! Was soll dieses Gebärden?!“. Er wollte, dass wir in Lautsprache sprachen. In dem Moment unterbrach ihn meine Oma (seine Schwiegermutter) und stand uns resolut zur Seite und hat meinen Vater kräftig beschimpft.
Als ich später arbeitslos wurde, erfuhr ich von meinem Vater, dass 8 km von meinem Wohnort ein gehörloser ehemaliger Klassenkamerad in einer Schmiede tätig war. Er regelte, dass ich dort Arbeit bekam. Im Laufe der Zeit wurden noch weitere taubstumme Kollegen dort eingestellt, sie waren beliebte Arbeitskräfte dort. In der Schmiede wurden Anker für Boote gefertigt.
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Übersetzung: Britta Harms und Michaela Matthaei