Mauersberger: Leipziger Montagsdemonstrationen 1989
Mauersberger: Leipziger Montagsdemonstrationen 1989 (Matthias Mauersberger, 2011)
Übersetzung
Vor der Wende fuhr ich jeden Montagabend mit der Straßenbahn zur Gehörlosenschule zum Sport. Von 18-20 Uhr spielten wir dort Fußball, Volleyball oder trainierten Leichtathletik.
An einem Montag sah ich dann zum ersten Mal einen Demonstrationszug. Vorher gab es auch schon kleinere Versammlungen auf der Straße, die mit Flugblättern angekündigt wurden, die sich jedoch immer nach kurzer Zeit wieder auflösten und daher keine große Bedeutung hatten. Ich hatte davon auch nichts mitbekommen.
An diesem Abend war es aber anders: Aus der Straßenbahn erblickte ich eine große Menschenmenge, der einige Polizisten gegenüberstanden. Ich fuhr an ihnen vorbei und dachte, da stimmt etwas nicht. Beim Sport sprachen wir darüber und dabei erfuhr ich, dass das, was ich gesehen hatte, eine Demonstration gegen die DDR-Regierung und die Partei war.
Daraufhin dachte ich noch, dass das nur eine einmalige Aktion war.
Am nächsten Montag fuhr ich aber wieder an einem Demonstrationszug vorbei, der mir nun etwas größer als in der vorigen Woche erschien. Ich hatte schon so ein komisches Gefühl, kümmerte mich ansonsten aber nicht weiter darum.
Einige Wochen später wollte ich wie immer montags zum Sport, als die Straßenbahn aufgrund der Menschenmenge auf der Demonstration ihren Betrieb einstellen musste. Ich ging dann nach Hause, denn als einziger Gehörloser auf dem Platz stehen wollte ich auch nicht. Bald darauf besprach ich mit einigen Gehörlosen, was wir nun machen könnten, da den meisten von uns der Weg zum Sport versperrt war. Wir hatten zunächst die Idee, dass wir uns den Montagsdemonstrationen anschließen könnten, allerdings waren wir skeptisch, ob wir als Gehörlose dort richtig aufgehoben waren. Schließlich würden wir dort ja von den gesprochenen Inhalten nichts mitbekommen. Vielleicht würde man uns als Demonstranten sogar festnehmen, das war uns zu gefährlich.
Stattdessen gingen wir zu den Veranstaltungen von Pastor Weithaas in die Junge Gemeinde, die jeden Dienstagabend stattfanden. Diese waren immer sehr gut besucht und auch viele Gehörlose kamen dorthin. Von Mal zu Mal wurde die Kirche voller, denn die Atmosphäre unter den Menschen war gespannt, alle brauchten Informationen. Pastor Weithaas verstand die Hintergründe der Demonstrationen und erklärte uns alles in Gebärdensprache, so konnten wir endlich begreifen, was da vor sich ging!
Wir Gehörlosen wollten nun die Proteste aktiv unterstützen und an den Friedensgebeten in der Kirche teilnehmen, die montags stattfanden, meistens um 17 Uhr. Weithaas unterstützte unsere Idee und besprach sich mit dem Pastor der anderen Kirche. Schnell war eine Lösung gefunden: Für uns Gehörlose wurden in der Kirche die vorderen Sitzreihen reserviert, sodass wir die Redner gut sehen konnten. Das war schon toll, auch weil sich hinter uns und oben in der Kirche die Menschen fast stapelten! Selbst die oberen Ränge waren geöffnet worden und bis auf den letzten Platz gefüllt. Pastor Weithaas gebärdete alles für uns, dann wurde gebetet. Danach sollten wir alle die Kirche verlassen und zusammen friedlich durch die Stadt marschieren. Alle waren nervös, denn man erzählte sich, dass es auf den Straßen inzwischen auch immer häufiger zu Auseinandersetzungen und Schüssen gegenüber Demonstranten kam. Aber diese Demonstration war wichtig und sollte ein solidarisches Zeichen für den Frieden setzen. Wir wurden deshalb vor dem Verlassen der Kirche dazu ermahnt, uns in jedem Fall friedlich zu verhalten.
Da die Kirche so überfüllt war, dauerte es sehr lange, bis wir Gehörlosen endlich auf dem Vorplatz der Kirche waren. Von dort Kirche bewegte sich der Menschenstrom in einer großen Schleife durch die Stadt und zurück zur Kirche. Es stimmte: Alle verhielten sich friedlich, und deshalb gab es auch keine Gewalt gegen die Demonstranten.
In der darauffolgenden Woche machten wir wieder mit. Diesmal war es in der Kirche aber noch voller, es war unglaublich, wie viele Menschen sich dort hineinquetschten, ein unvergessliches Erlebnis. Diesmal hatte ich, allerdings mit einem recht mulmigen Gefühl meinen Fotoapparat mitgenommen, aber ich hatte mich vorher mit meinem Freund Volkmar Jäger abgesprochen, er hatte seinen auch dabei. Auf diese Weise hatten wir immer noch eine Kamera übrig, wenn eine verloren ginge oder beschlagnahmt werden würde. Ich habe noch mehrere Leute gesehen, die auch Fotoapparate dabei hatten. Es war aber wichtig, so unauffällig wie möglich zu fotografieren und ohne Blitz, denn es war verboten, die Proteste gegen das Regime zu fotografieren. Wir hielten unsere Kameras deshalb immer unter der Jacke versteckt. In der Kirche konnten wir natürlich unbehelligt viele Fotos machen, denn dort standen wir ja unter Gottes Schutz. Draußen mussten wir dann aber gut aufpassen und nur ohne Blitz fotografieren, obwohl es draußen schon dunkel war. Damals war das ja noch Analogfotografie und wir knipsten beide viele Filme voll. Ich habe allein während der Demonstration fünf Filme verbraucht, also ca. 150 Fotos gemacht, aber das war mir egal. Ich habe hauptsächlich Motive in meiner Nähe gesucht, sodass ich die Kamera möglichst dezent einsetzen konnte. Manchmal habe ich sie in sicheren Momenten aber auch ganz kurz über meinen Kopf gehalten und die ganze Menschenmenge auf dem Bild eingefangen, ein ganz schöner Nervenkitzel!
Am Abend endete die Demonstration und ich ging heim, um meine Fotos zu entwickeln. Ich hätte niemals meine Filme in einem Fotogeschäft entwickeln lassen können. Die Filme wären dort sofort beschlagnahmt worden, deshalb habe ich es selbst gemacht und das klappte auch überraschend gut. Die Qualität der Fotos war zufriedenstellend und die Motive, die mir nicht so gut gelungen waren, fotografierte und entwickelte ich einfach in der folgenden Woche nochmal.
Auf diese Weise entstanden viele Abzüge, die ich zuhause sicher aufbewahrte.
Anfänglich sah ich bei den Demonstrationen am Rande auch bewaffnete Soldaten, Kampfgruppen und Bereitschaftspolizei. Ihre Reihen wurden jedoch von Mal zu Mal immer dünner, bis sie eines Tages ganz verschwunden waren.
Da waren wir alle erleichtert: Wir hatten es geschafft, unglaublich! Wir Gehörlosen wollten nun auch weiter demonstrieren, bis zur Erlangung des Rechts auf Freiheit. Es kamen auch immer mehr Gehörlose hinzu. Irgendwann war montags in der Kirche kein Platz mehr für sie, denn es gab dort nur 20 Plätze für Gehörlose, aber ca. 100, die teilnehmen wollten. Deshalb haben sich dann kleinere Gruppen gebildet, die sich auf die Demonstrationen vorbereiten, verabredeten und dann zusammen marschierten.
Dann fiel- für uns alle völlig unerwartet- die Mauer, und wieder war ein großer Schritt zur Freiheit geschafft. Wir waren überglücklich, demonstrierten aber trotzdem jeden Montag weiter, bis zu dem Tag, als Helmut Kohl nach Leipzig kam. Die ganze Stadt war auf den Beinen, um ihn zu sehen. Danach kehrte langsam Ruhe ein und wir konnten erleichtert feststellen: Wir hatten es geschafft!
Und es war auch wichtig, dass wir Gehörlosen mit dabei waren. Es waren zwar nicht alle dabei- zu einigen von ihnen war der Kontakt nicht so eng und einige hatten Angst mitzumachen- wir haben das akzeptiert. Wir aber waren gestärkt durch unsere Gemeinschaft aus unserem Sportverein und auch in den anderen Gehörlosenclubs machte man sich gegenseitig Mut, an der Bewegung teilzunehmen. Gemeinsam mit allen hatten wir es geschafft!
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Übersetzung: Britta Harms und Michaela Matthaei