Kultur der tauben Menschen
Kultur der tauben Menschen (Stefan Goldschmidt, 2008)
Übersetzung
Sprache und Kultur sind untrennbar miteinander verwoben. Daher ist eine Gehörlosenkultur ohne Gebärdensprache vollkommen unvorstellbar. Die Gehörlosenkultur wird durch Gehörlose selbst geprägt und gestaltet, indem sie den Kontakt zueinander pflegen, miteinander interagieren und meist von Kind an in der Gehörlosengemeinschaft sozialisiert werden.
Die Gehörlosenkultur wird von einem Fundament getragen, das sich aus verschiedenen Bausteinen zusammensetzt:
1.) Ein Baustein der Gehörlosengemeinschaft ist die gemeinsame Sprache, die DGS.
2.) Die zweite Komponente bildet ein gemeinsamer Ort der Begegnung. Für Gehörlose ist dieser Ort der örtliche Gehörlosenverein, in dem sie sich treffen und austauschen können.
3.) Gehörlose Eltern haben ebenfalls eine wichtige Aufgabe im Fundament der Gehörlosenkultur. Durch sie werden die Traditionen der Gehörlosengemeinschaft an die nächste Generation weiter gegeben.
4.) Als letzter bedeutender Baustein der Gehörlosengemeinschaft ist die gemeinsam erlebte Schulzeit von Gehörlosen zu nennen. Innerhalb von Schulen und Internaten lernen gehörlose Kinder und Jugendliche voneinander und trainieren im täglichen Miteinander ihr kulturelles Bewusstsein und verbessern ihre Kenntnisse der DGS. Dabei werden gebärdensprachkompetente Kinder, die sich schon früh mit der Gehörlosenkultur identifiziert haben, als kulturelle und sprachliche Vorbilder geschätzt.
Zu diesem Fundament gehört auch ein positives Selbstbild. Wer sich mit der Gehörlosenkultur identifiziert, lässt sich von den Problemen in einer Welt von Hörenden nicht unterkriegen, sondern begreift sich als gleichberechtigte, selbstbewusste Persönlichkeit, die gebärdensprachlich kommuniziert.
An dieser Stelle sollen einige Kernpunkte der Gehörlosenkultur dargestellt werden:
1.) Sprache
Die Gebärdensprache als identitätsstiftendes Mittel der Gehörlosengemeinschaft verfügt über eine große stilistische Bandbreite angefangen von der Alltags-DGS bis hin zu Kunstformen, wie z.B. Gebärdensprachpoesie.
2.) Werte
Für Gehörlose ist der soziale Kontakt zueinander sehr wichtig. Durch den gebärdensprachlichen Austausch werden Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft zu einem großen Netzwerk geflochten. Dieses Netzwerk kommt allen Gehörlosen zugute, insbesondere, wenn ihre gemeinschaftlichen Werte durch bestimmte Ereignisse bedroht wird. Würde beispielsweise jemand die Untertitelung oder Dolmetscher-Einblendung im Fernsehen abschaffen, oder Gehörlosen-Schulen schließen lassen, würde die Gehörlosengemeinschaft umgehend gegen solche Entwicklungen protestieren, weil mit Untertitelungen, Dolmetscher und Gehörlosenschulen wichtige Werte der Gehörlosengemeinschaft sind.
3.) Normen
Gehörlose folgen in ihrem Verhalten untereinander bestimmten Normen, d.h. Verhaltensregeln. Gebärdensprache ist visuell, daher ist eine Regel im Umgang mit Gehörlosen, den Blickkontakt während eines Gesprächs aufrecht zu erhalten. Für Gehörlose ist das Zeigen mit dem Zeigefinger auf Dinge und Personen eine Selbstverständlichkeit, ebenso das Tippen auf die Schulter, um jemanden von hinten anzusprechen. Da für eine erfolgreiche gebärdensprachliche Kommunikation gute Sichtverhältnisse herrschen müssen, werden dafür notwendige Maßnahmen getroffen. Dazu gehört z.B. gegebenenfalls, dass das Licht angeschaltet wird.
4.) Bräuche
In der Gehörlosengemeinschaft bestehen bestimmte Bräuche. Beispielsweise klopfen Gehörlose vor dem Essen zweimal mit den Fingerknöcheln der Faust leicht auf die Tischplatte und wünschen sich so einen guten Appetit. Gehörlose klatschen nicht in die Hände, um jemandem zu applaudieren. Statt dessen heben sie ihre Arme und lassen ihre Hände zittern. Begrüßungen und Abschiede werden in der Regel von herzlichen Umarmungen begleitet, wobei die Abschiede sich meist sehr lang hinauszögern. Generell ist die Kommunikation unter Gehörlosen durch eine direkte offene Art gekennzeichnet.
5.) Symbole
Es gibt spezielle Symbole, die von bzw. für gehörlose Menschen entwickelt wurden. Beispiele: - Symbol „I Love You“ ( Daumen, Zeigefinger und kleiner Finger werden von der Faust abgespreizt) - Symbol „hörgeschädigt“ (eine durchgestrichene Ohrmuschel); kennzeichnet z.B. im Fernsehprogramm Sendungen mit Untertiteln für Hörgeschädigte - Symbol „Info in Gebärdensprache“ (zwei gespreizte Hände wie im Gebärdenzeichen GEBÄRDEN), kennzeichnet Informationen in Gebärdensprache für Gehörlose im Filmformat
6.) Traditionen
Die Wertvorstellungen und Bräuche der Gehörlosen werden von Generation zu Generation in der Gehörlosengemeinschaft weiter gegeben. Bis heute haben die Traditionen der Gehörlosen Bestand: die Verwendung der Gebärdensprache, ihr sozialer Zusammenhalt auch über größere Entfernungen, aber auch ihre Witze und Namensgebärden. Gehörlose verleihen ihrer reichhaltigen Kultur auch in der hörenden Gesellschaft Ausdruck. Dies geschieht in Form von Kunst, Film, Theater und Literatur.
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Übersetzung: Britta Harms und Michaela Matthaei