Erfahrungsbericht 1: Eigenes Interesse
Woher mein Interesse für die Gebärdensprachpoesie stammt (Jürgen Endress, 2013)
Übersetzung
Ich habe gehörlose Eltern, die ebenso wie ihre gehörlosen Freunde mit mir schon von klein an gebärdet haben. So beobachtete ich schon als Kind fasziniert die Gebärden und entwickelte bald eine unbegrenzte Fantasie, wenn ich selbst gebärdete. Ich schmückte meine Äußerungen aus und erfand neue Gebärden, die ich meinen Eltern präsentierte, z.B. habe ich einmal eine hübschere Variante der Gebärde SONNE geschaffen, bei der ich selbst die Rolle der Sonne übernahm, und mit den Fingern von meinem Gesicht aus die Sonnenstrahlen darstellte. Meine Eltern fanden das nicht schlecht! Und so nutzte ich schon als Kind immer öfter die sog. „Rollenübernahme“, auch wenn ich Menschen im Fernsehen sah und imitierte. Damals gab es ja noch keine Untertitel im Fernsehen, um den Inhalt zu verstehen! Stattdessen habe ich mir die Personen im Fernsehen ganz genau angesehen und ihre Körperhaltung und Mimik imitiert. Damit fing also alles an.
Nach einigen Jahren, ich war mittlerweile auf der Realschule, wurde mir dort gesagt, dass ich lieber aufhören solle mit diesen erfundenen Gebärdenzeichen und diesem fantasiereichen, kindischen Stil- das sei ja keine richtige Kommunikation. Ich solle mich lieber sauber in DGS ausdrücken.
Nachdem meine Art zu gebärden so abgewertet worden war, schämte ich mich ein wenig und benutzte von dem Zeitpunkt an nur noch Gebärdenzeichen aus der DGS, bis zu dem Tag, als ich das erste Gebärdensprachfestival in Berlin besuchte. Das war für mich sehr bewegend zu sehen, wie auf der Bühne so gebärdet wurde, wie ich es auch immer tun wollte. Der Stil war fantasievoll, experimentell, und die Beiträge handelten von Themen, die mich auch beschäftigten. Ich schaute mir alle Stücke an, es waren alles Darsteller, die allein auf der Bühne standen. Im darauf folgenden Jahr ging ich wieder dorthin und unterhielt mich mit einem Darsteller, dessen Stil mir besonders gut gefiel, über seine Art zu gebärden. Inspiriert und begeistert fuhr ich nach Hause, wo ich gleich begann, online zu diesem Thema zu recherchieren. Allerdings fand ich noch nicht viele Antworten zu meinen vielen Fragen, denn das Internet war damals noch relativ neu. Also beschäftigte ich mich erst einmal damit, selbst Stücke zu entwickeln.
Dann fuhr ich nach Basel in die Schweiz und nahm dort an einem Festival teil. Dabei spürte ich gleich, wie toll sich das anfühlte. Beim nächsten Gebärdensprachfestival in Berlin stand ich auch wieder auf der Bühne. Aber ich spürte, dass mir noch etwas fehlte, und ich mit meiner Auseinandersetzung mit dem Begriff Poesie noch nicht fertig war.
Was ich suchte, fand ich schließlich bei dem internationalen Festival „Deaf Art Now“ (kurz: DAN) in Stockholm. Dort gab es eine Woche lang ein breites Angebot von Workshops in verschiedenen Kategorien, z.B. Theater, Film, Poesie, Tanz, Malerei und Fotografie. Ich nahm an den Workshops für Poesie teil und gewann einen intensiven Einblick in das Thema. Der Unterricht war sehr spannend und geprägt von einem anregenden Austausch. Die Erfahrungen der Teilnehmer aus anderen Ländern inspirierten mich und ich fühlte, dass ich angekommen war. Und während des Kurses begann ich, mich selbst als Künstler wahrzunehmen, das war für mich ein bahnbrechendes Ereignis! Vorher hatte ich ganz andere Ziele: Ich wollte mich sportlich beweisen und strebte dort immer Bestzeiten an. Das war mir nun nicht mehr so wichtig. Stattdessen wollte ich meine Energie nur noch darauf verwenden, mich auszudrücken. Ich wollte Themen und Gefühle, die mir wichtig waren, transportieren und Denkanstöße geben. Ich hatte mich entschieden: Mein Weg war von da an der Weg des künstlerischen Ausdrucks, und dies wurde nicht zuletzt ausgelöst durch das Berliner Gebärdensprachfestival.
___
Übersetzung: Britta Harms und Michaela Matthaei