Gertrud Mally
Mally: Warum ich 2001 den Kulturpreis bekommen habe (Gertrud Mally, 2011)
Übersetzung
Den Kulturpreis bekam ich für mein Engagement im Kampf um die Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache. Mein Engagement bezog sich nicht nur auf den Münchner Raum, nein, ich war bundesweit aktiv und nach dem Mauerfall auch in den neuen Bundesländern. Auf der einen Seite habe ich sehr viel Aufklärungsarbeit für Hörende betrieben und andererseits das Selbstbewusstsein gehörloser Menschen gestärkt. Auf beiden Seiten fand ich es sehr wichtig, dass Öffentlichkeitsarbeit betrieben wird. Allerdings muss ich sagen, dass ich den Lauf der Entwicklung nicht bedacht habe, die vielen Zusammenhänge habe ich damals noch nicht gesehen. Anfangs gab es nur Gebärdensprachkurse in den Volkshochschulen, das war 1979, wo das mit dem Gebärdenunterricht angefangen hat. Die hörenden Kursteilnehmer haben mich immer öfter auf Folgekurse angesprochen und so hatte ich noch zwei Folgekurse angeboten. Aber auch das reichte ihnen nicht, sie wollten ihre Kenntnisse in der DGS immer weiter ausbauen und vor allem auch Kontakte zu anderen Gehörlosen knüpfen, statt immer nur meinen Gebärdenstil zu sehen.
Ich habe dann überlegt, wie ich andere Gehörlose als Gäste für meinen Unterricht gewinnen konnte. Das Problem war, dass die meisten Gehörlosen damals eine tiefe Ablehnung gegen Hörende hegten, auch, weil sie ihre Lautsprache nicht verstehen konnten. Ich sprach trotzdem einige gehörlose Bekannte darauf an und erklärte ihnen die Situation, dass meine Kursteilnehmer schon etwas gebärden konnten und an „neuen Gesichtern“ interessiert waren.
Es gelang mir, einen Termin zu vereinbaren und wir trafen uns dann mit den Teilnehmern meines Kurses regelmäßig einmal im Monat zu einem Stammtisch in einem Lokal. Meine Teilnehmer verstanden meinen gehörlosen Bekannten aber kaum, und bald wurde mir auch klar, woran das lag: Sie konnten ihn ja gar nicht verstehen, weil ich ihnen in den Kursen statt DGS-Ausdrücken LBG beigebracht hatte! DGS-Kurse gab es damals ja noch nicht, das Thema DGS war nicht aktuell. Mein Bekannter gebärdete jedoch in flottem Tempo reinste DGS und betonte: „So ist unsere Sprache!“ Da waren meine Kursteilnehmer natürlich sehr frustriert weil sie das Gefühl hatten, ich hätte sie nicht richtig unterrichtet und mir war das auch sehr unangenehm.
Ich erklärte es ihnen: „Ja, aber das ist etwas anders, eine Art gebrochenes Deutsch, das wir Gehörlosen miteinander gebärden“. Ich konnte aber keine genaue Definition dafür geben, ich wusste ja selbst nicht, wie ich das beschreiben sollte. Die Teilnehmer waren enttäuscht, aber im nächsten Moment forderten sie: „ Ja, aber genau das wollen wir doch lernen!“ Was sollte ich da machen? Es gab ja noch keine Unterrichtsmaterialien zur DGS. Aber es funktionierte trotzdem, indem wir uns weiter regelmäßig mit meinem gehörlosen Bekannten beim Stammtisch austauschten. Mithilfe vieler Nachfragen am Anfang klappte die Kommunikation zwischen ihm und meinen Teilnehmern immer besser und irgendwann verstanden sie einander.
Später zeigte sich, dass besonders den Studierenden aus dem Fach Hörgeschädigtenpädagogik die Getränke und Speisen im Lokal zu teuer waren. Deshalb kontaktierte ich die örtliche Volkshochschule und beschrieb dort mein Konzept, dass sich Gehörlose und Hörende im Rahmen regelmäßiger Treffen austauschen möchten. Die VHS stellte mir daraufhin gleich einen ausreichend großen Raum zur Verfügung.
Dieses regelmäßig stattfindende Treffen wurde später umbenannt zu „KoFo“ (Kommunikationsforum). Der Begriff “Stammtisch“ passte einfach nicht mehr und außerdem wollte ich mithilfe der neuen Bezeichnung finanzielle Zuschüsse bekommen und durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit diese Veranstaltung bekannter machen. Von Mal zu Mal kamen nun mehr Hörende, die mehr über Gehörlose erfahren wollten. Ich erfuhr, dass in Zeitschriften nur selten über gehörlose Menschen berichtet wurde und wenn, waren die Autoren meist hörende Ärzte, die über Hörgeräte und Cochlea Implantate schrieben. Über diese technischen Dinge gab es viel Information, aber über die gehörlosen Menschen selbst gab es erschreckend wenig zu lesen. Das lag natürlich auch daran, dass wir Gehörlosen die Deutsche Schriftsprache nicht gut beherrschten und es gab auch keine gehörlosen Journalisten. Wenn ein Journalist zu dem Thema schreiben wollte, wurden meist Taubstummenlehrer, Erzieher von gehörlosen Kindern oder die hörenden Eltern interviewt. Dabei fiel auf, dass in den Artikeln über uns immer eine defizitäre Sichtweise zum Ausdruck kam, z.B. gab es darin Ratschläge, wie man mit uns am Besten umgehen solle, und dass man mit uns immer sehr langsam und deutlich sprechen müsse, damit die Kommunikation mit uns klappt. Das war die damalige Einstellung der Hörenden! Mit dieser Form der einseitigen Berichterstattung war ich nicht zufrieden. Mich hat es geärgert, dass wir nicht selbst zu diesen Themen befragt wurden, aber das war ja auch schwierig, denn wir hatten keine Kontakte zu Journalisten und außerdem gab es ja noch keine Dolmetscher, sodass eine Kommunikation gar nicht funktioniert hätte! Deshalb wurde immer nur Hörende gefragt. Ich habe aufgrund dieser frustrierenden Lage eine eigene Zeitschrift ins Leben gerufen: „Selbstbewusst werden“.Die Artikel darin wurden alle von Gehörlosen geschrieben, aber viele schämten sich für ihr schlechtes Deutsch. Mir war das aber egal und ich hielt an diesem Experiment fest, die Hauptsache war doch, dass wir Gehörlosen endlich selbst unsere Meinung, unsere Einstellung und das, was für uns wichtig war, zum Ausdruck bringen konnten! Und ich habe mich bewusst dazu entschieden, beim Schreiben der Artikel keine Hilfe von Hörenden anzunehmen, alle Beiträge sollten von Gehörlosen selbst verfasst sein.
Als dann die erste Ausgabe erschien, stieß das Heft auf große Resonanz. Die eine Hälfte der Leser war begeistert, die andere fasste sich entgeistert an den Kopf, weil sie das Deutsch unmöglich fanden. Von den Gehörlosen wurde meine Zeitung aber durchweg begeistert angenommen. Sie identifizierten sich mit den Inhalten meiner Artikel und waren mit mir überwiegend einer Meinung. Im Laufe der Zeit hatte die Zeitung daher eine immer größere gehörlose Leserschaft.
Etwas später riet mir ein Freund, einmal monatlich einen öffentlichen Diskussionsabend mehr zu veranstalten. Aber ich wusste ja gar nicht, wie ich eine Diskussion moderieren sollte! Er empfahl mir, dies in einem „Rhetorik“-Kurs zu lernen. Ich meldete mich gleich dafür an und lernte an zwei Wochenenden, wie ich mich als Moderatorin zu verhalten hatte. Es war z.B. wichtig, dass ich als Moderatorin immer neutral bleiben musste, d.h. meine eigene Meinung zurückhielt. Außerdem sollte ich einen guten Überblick über die verschiedenen Meinungen der Diskussionsteilnehmer behalten und zwischen ihnen vermitteln.
Nachdem ich das Training beendet hatte, organisierte ich jeden Monat einen Diskussionsabend, immer zu einem anderen Thema. Am Anfang zielte die Thematik der Veranstaltung hauptsächlich auf die Gehörlosen ab. Dabei war mein vorderstes Ziel immer, sie wachzurütteln, ihr Selbstbewusstsein zu stärken, sie auf die Bühne zu holen, ganz nach dem Motto „Raus mit der Sprache!“. Sie waren es ja gar nicht gewohnt, sich vor Publikum zu äußern und hatten auf der Bühne immer schlotternde Knie! Sie schämten sich so für ihr schlechtes Deutsch und hatten große Komplexe. Aber mir war das egal! Ich bestellte dann auch Dolmetscher, die die gebärdeten Äußerungen für die hörenden Anwesenden simultan übersetzten und mit der Zeit wurden die Gehörlosen auch immer mutiger, sodass sie irgendwann pausenlos auf die Bühne stiegen, um sich zu äußern. Die Hörenden im Publikum waren regelrecht erstaunt darüber, wie selbstbewusst sich die Gehörlosen auf der Bühne präsentierten. Sie bekamen langsam ein vollständiges Bild von ihnen und begriffen, dass sich gehörlose Menschen ebenso intelligent äußern konnten wie sie und dass sie Emotionen zeigen konnten.
Dann richtete sich die Veranstaltung von der Thematik her nicht mehr nur vordergründig an Gehörlose sondern immer mehr auch an Hörende. Denn mir war es einerseits wichtig zu erfahren, wie die Hörenden über uns dachten und wir wollten auch mehr über sie erfahren. Mir war es wichtig, dass es dabei mehr zu einem gegenseitigen Austausch kommt. Deshalb orientierten wir uns mit den Themen für die KoFo-Abende sowohl an den Bedürfnissen der Hörenden als auch an den Wünschen und Perspektiven der Gehörlosen. Auf diese Weise entstand automatisch Integration.
Bei den Diskussionen entstanden aus dem Gesprächsstoff dort auch immer neue Impulse, die ich für Artikel für die Zeitschrift verwenden konnte.
Ja, ich habe da schon sehr viel gemacht. Es war auch ganz schön viel Arbeit für mich. Alle drei Monate erschien eine neue Ausgabe meiner Zeitung, dazu musste ich mich regelmäßig mit Kollegen besprechen und lange Sitzungen abhalten, Themenvorschläge sammeln, Zeichnungen erstellen, usw. Da gab es immer viel zu tun für mich. Am Schlimmsten war immer der Zeitpunkt kurz vor Redaktionsschluss. Da habe ich oftmals zwei Tage ohne Schlaf durchgearbeitet, das waren dann um die 48 Stunden. Manchmal bin ich dann an meinem Arbeitsplatz vor Müdigkeit eingeschlafen, das war mir natürlich unangenehm.
Aber ich wurde mit großem Erfolg belohnt, denn die Zeitung kam immer sehr gut an.
Dann ging es ja um den Kampf für die Anerkennung der DGS. In diesem Zusammenhang werde ich wohl nie den ersten Gebärdenkongress in Hamburg vergessen, der-glaube ich- 1984 oder 1985 stattfand. Ich hatte ja zu dem Zeitpunkt schon Erfahrungen als Kursleiterin gesammelt, aber mit vielen Fragen, die sich mir in dieser Rolle stellten, blieb ich allein. Mir fehlte der Erfahrungsaustausch mit anderen gehörlosen Kursleitern, um z.B. auch einmal über meine Unzufriedenheit mit LBG in meinen Kursen zu sprechen. Als ich von dem Kongress erfuhr, nahm ich deshalb selbstverständlich daran teil!
Der Kongress war sehr gut besucht. Unter anderem erfuhr ich in dem Vortrag von dem Sprachwissenschaftler Prof. Prillwitz zum ersten Mal, dass die DGS eine Sprache ist, die völlig gleichwertig mit der Deutschen Lautsprache ist, diese neue Nachricht hat mich zunächst völlig verwirrt. Im Publikum kam es teilweise zu starken Reaktionen, vor allem bei den entsetzten Hörgeschädigtenlehrern, die sind stinkwütend gewesen und riefen, das sei unmöglich! Auf der anderen Seite die begeisterten Gehörlosen, die gebärdeten: „Ja, das stimmt!“, die brachen in großen Applaus aus. Die Erlebnisse, die ich auf diesem Kongress hatte, bestärkten mich in meiner Arbeit für die KoFo-Abende und ich streute die guten Neuigkeiten zur DGS bei jeder Gelegenheit ins Publikum, so, dass alle, egal ob hörend oder gehörlos, davon erfuhren.
Das Thema war jedoch ein heißes Eisen und bei den Diskussionen kochten die Emotionen oft hoch. Manchmal gab es auch Streit mit den Dolmetschern, denn manche wollten es nicht wahrhaben, dass die DGS eine eigene Sprache sein sollte. Damals hatten viele noch die innere Einstellung eines Sozialarbeiters. Auch in meiner Zeitschrift war die „DGS“ nun ein Dauerthema.
Ein Höhepunkt in meiner Zeitschrift „Selbstbewusst werden“ war eine abgedruckte Karikatur, die ein sehr begabter Mitarbeiter anfertigte: Sie zeigte eine dicke hörende Person mit viel Geld in den Hosentaschen, die auf Kosten einer armen chancenlosen gehörlosen Person lebt, die wie ein jämmerliches Objekt daneben steht. Das hat für viel Aufruhr gesorgt: Ein hörender evangelischer Pfarrer hat uns große Vorwürfe gemacht und auch aus Liechtenstein gab es von einer Einrichtung zur Förderung von hochbegabten gehörlosen Studenten (die war bekannt, existiert aber heute nicht mehr) viel Protest und einen bösen Brief, in dem u. A. stand, dass es ja eine Frechheit sei, so eine Karikatur zu veröffentlichen. Wir hatten zu diesem Thema noch einige heiße Briefwechsel mit der Einrichtung. Einer meiner Mitarbeiter las immer das Magazin „Der Spiegel“ und zeigte mir bald darauf einen aktuellen Bericht über einen Skandal an dieser Einrichtung in Liechtenstein. Dort hatten die Eltern eines hochbegabten Kindes Anzeige erstattet wegen Unterschlagung. Das passte ja zum Thema des Bildes aus unserer Karikatur: Die hörenden stopften sich die Taschen voll. Wir druckten diese Meldung natürlich gleich begeistert in „Selbstbewusst werden“ und erhielten dafür von unseren Lesern viel Zuspruch. Von der Einrichtung aus Liechtenstein hörten wir interessanterweise von da an nichts mehr, und das war für uns die Bestätigung, dass wir recht hatten mit unserer Sichtweise!
Durch diese Episode wurde ich weiter darin ermutigt, dass man auch ruhig mal Kritik üben darf. Es kann ja ruhig mal gestritten werden, warum soll man immer klein bei geben und still halten, wenn einem etwas nicht passt? Die Entwicklung verlief weiterhin sehr positiv und bald organisierte ich nicht nur die KoFos und Diskussionsabende im Münchner Raum sondern ich wurde auch immer öfter als Gastrednerin in andere Städte eingeladen, um dort wichtige Aufklärungsarbeit zu leisten. Zum Beispiel war ich in Ulm, Hamburg, Köln, Leipzig, Halle, usw. Ich habe alle meine Stationen in einem Heft notiert, es waren wirklich sehr viele. Die vielen Reisen waren aber auch anstrengend für mich, weil dafür die Wochenenden verwendet werden mussten. Aber durch meine Arbeit vor Ort konnte ich viele Gehörlose dazu ermutigen eigene KoFos zu organisieren und meine Botschaft weiter zu geben. Dadurch hat sich auch eine starke Solidariät in der Gehörlosengemeinschaft entwickelt, denn immer mehr Gehörlose wollten nun gemeinsam für die Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache kämpfen. Dieser gemeinsame Kampf hat uns richtig groß und stark gemacht. Ich habe mich mit voller Kraft bis 1994 daran beteiligt, dann habe ich mich zurückgezogen, weil es mir auf Dauer zu anstrengend wurde. Meine Batterie war einfach leer. Andere Gehörlose haben den Kampf an meiner Stelle fortgeführt.
2001 fanden in München die Kulturtage der Gehörlosen statt und ich ging mit einigen gehörlosen Freunden dorthin, um mich ein bisschen umzusehen und zu informieren. Dann gab es einen Programmpunkt, bei dem der Kulturpreis der Gehörlosen verliehen wurde und ich saß nichtsahnend im Publikum. Als die damalige Präsidentin des Deutschen Gehörlosenbunds, Gerlinde Gerkens, dann meinen Namen verkündete, war ich völlig überrascht! Ich hatte das überhaupt nicht erwartet und hatte mich auch gar nicht entsprechend festlich gekleidet! Aber natürlich habe ich mich dann doch sehr über diese Ehrung gefreut und es hat mir gezeigt, dass mein Engagement nicht umsonst war. Das war wirklich ein sehr schöner Moment für mich.
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Übersetzung: Britta Harms und Michaela Matthaei