Erfahrungsbericht 1: Als Soldat an der Ostfront
Als Soldat im "Volkssturm" an der Ostfront bei Königsberg 1945 (Rudi Riskowski, 2011)
Übersetzung
Mein Name ist Rudi Riskowski. Ich bin 1929 in Königsberg, Ostpreußen, geboren. Ich würde liebend gern nach Königsberg zurückkehren, das Leben dort war schön. Bis 1944 bin ich dort zur Schule gegangen und nach meinem Abschluss wollte ich gern Zahntechniker werden. Ich bekam sogar eine Anstellung, aber inzwischen war der Krieg in vollem Gange und Königsberg wurde 1944 so heftig bombardiert, dass an Arbeit nicht mehr zu denken war und ich meine Anstellung verlor. Man schickte mich stattdessen zum Jugend-Osteinsatz, um dort Schützengräben auszuheben und Panzerfallen zu errichten. Wir wurden dazu mit der Hitler-Jugend an die Memel geschickt und dann weiter nach Lettland, Litauen und Estland. Dort haben wir für unsere Soldaten Schützengräben ausgehoben, allerdings wurden die deutschen Truppen und somit auch wir immer mehr zurück bis Memel gedrängt.
Dann bekamen wir zum ersten Mal Urlaub, worüber wir sehr froh waren. Das war im August ’44, und ich kehrte das erste Mal zurück nach Königsberg. Als ich dort ankam, traf mich fast der Schlag! Meine Heimatstadt war in der Zwischenzeit von Bomben in Schutt und Asche gelegt worden. Während unseres Osteinsatzes hatten wir davon nichts mitbekommen, denn uns Soldaten wurden solche Nachrichten verschwiegen. Durch die Verwüstung gab es kein funktionierendes Verkehrssystem mehr in der Stadt, weder Busse noch Züge fuhren. Deshalb musste ich zu Fuß mit meinem Rucksack nach Hause laufen. Zum Glück hatten meine Eltern die Bombardierung überlebt und auch das Haus bzw. unsere Wohnung war unbeschädigt. Ich musste mich beim Ortsamt von Königsberg aus dem Osteinsatz zurück melden. Dort sagte man mir jedoch, die Hitler-Jugend müsse doch dort im Osten bleiben, darum musste ich leider wieder zurück. So wurde ich also nochmals von meinen Eltern getrennt.
Nach einiger Zeit hatte ich dort eine Auseinandersetzung mit dem Anführer der Hitlerjugend. Bei dem Streit ging es darum, dass ich zum Schuheputzen gezwungen wurde. Ich habe das erstmal hingenommen und geputzt. Als ich ihm eines Abends die sauberen Schuhe bringen wollte, sah ich zu meiner Überraschung, wie er mit einigen anderen Älteren eine kleine Feier abhielt. Die Herren hatten gut zu essen, im Gegensatz zu uns! Da hatte ich dann was dagegen und so kam es zum Streit. Da floh ich zurück nach Königsberg zu meinen Eltern. Als ich dort nur meinen Vater vorfand, meine Bruder und meine Mutter jedoch nicht, bekam ich schon einen großen Schreck. Aber mein Vater beruhigte mich, sie waren im Zuge der „Mutter – Kind Verschickung“ zum Schutz abgereist. Mein Vater und ich waren nun erstmal allein und ich konnte ihm alles vom Streit und meiner Flucht erzählen. Wir einigten uns, dass ich bei ihm bleiben solle und er versorgte mich. Nach drei Tagen sagte er, dass seine Lebensmittelmarken auf Dauer nicht für uns beide reichen würden. Er sagte, ich müsse wohl wieder zurück in den Osten, wo ich vorher mit der Hitler-Jugend stationiert war.
Dort angekommen fand ich jedoch niemanden von meinen Kameraden wieder, meine Truppe war längst weitergezogen. Zurück in Königsberg sagte mir mein Vater, ich solle zum Ortsamt gehen und mich zurückmelden und über meine Situation erzählen. Dort setzte man mich daraufhin zur Bewachung von Soldaten und Kriegsgefangenen ein und ich half auch, die Transporte von kranken und verwundeten Soldaten zu erledigen. Für mich als einziger Gehörloser dort war das sehr langweilig und ich fühlte mich sehr allein. Dann kam Weihnachten und im Januar darauf bekam ich eine Uniform, deren Ärmel mir etwas zu lang waren. Auf dem Ärmel war ein Banner mit der Aufschrift „Volkssturm“ angebracht, dazu bekam ich ein Gewehr und die Anweisung, jetzt an der Front dienen zu müssen. Ich verstand das nicht und erwiderte: “Aber ich bin doch gehörlos!“, aber das spielte keine Rolle, ich hatte zu gehorchen. Als ich mich bei meinem Vater verabschieden wollte, fiel der aus allen Wolken und versuchte, mich davon abzubringen. Aber ich sagte: „Was soll ich machen? Wenn ich mich weigere, werde ich noch erschossen!“ Und so ließ er mich schweren Herzens ziehen.
Bedrückt machte ich mich mit den anderen auf den Weg an die Front, wo sich mir ein schreckliches Bild bot: Der Boden war übersät von gefallenen Soldaten. Ich musste helfen, die Toten zu bergen. Später musste ich dann selbst kämpfen: Als sich russische Panzer näherten, wurde mir kurzerhand der Umgang mit einer Panzerfaust erklärt, damit sollte ich einen russischen Panzer beschießen. Ich sollte auf das Fahrgestell zielen, dann konnten sie nicht weiterfahren und der Panzer würde zerstört werden. Ich traf genau am Fahrgestell, der Panzer ging in Flammen auf, und die Russen öffneten die Luken und stiegen heraus. Ich bekam die Anweisung, die Männer zu erschießen, was ich wie die anderen auch tat. Als ein zweiter russischer Panzer heranrollte, gab man mir eine Tellermine. Die sollte ich in eine ganz bestimmte Stelle des Panzers legen, an der das Geschütz auf dem Panzer befestigt ist. Dort lässt sich das Geschütz drehen und in der Höhe verstellen. Die Höhenverstellbarkeit war neu und führte dazu, dass sich das Geschütz in erhobenem Zustand schneller drehen ließ als bei anderen Modellen. Man musste sehr schnell sein und die Mine genau in dem Moment hineinlegen, wenn das Geschützrohr nach oben gefahren war. Erst wollte ich nicht, aber mir blieb keine Wahl. Ich nahm all meinen Mut zusammen und rannte zum Panzer, wartete geduckt noch kurz auf den richtigen Moment, bis sich das Geschütz hob und die Stelle freilegte. Dann legte ich schnell die Mine hinein und rannte so schnell ich konnte zurück und duckte mich im Schützengraben. Als das Geschütz beim Herunterfahren auf die Tellermine gesetzt wurde, gab es eine gewaltige Explosion, bei dem der Panzer in vielen Teilen auseinanderflog. Nun hatte ich zwei Panzer zerstört, wofür ich viel Lob bekam. Naja...
Bei diesen ersten Erfahrungen an der Front hatte ich noch große Angst, die sich mit der Zeit aber legte. Bald entwickelte ich sogar eine regelrechte Kampfeslust, und meinen Kameraden ging es nicht anders. Wir wollten es dem Russen so richtig zeigen! Ich kam dann in einen Trupp mit fünf jungen Hörenden. Man muss sich das mal vorstellen, ich war da erst 15 Jahre alt! Wir wurden einem Offizier zugeteilt, der ein Maschinengewehr bediente. Wir mussten dafür sorgen, dass er ununterbrochen genügend Munition hatte. Der Offizier war nett und verstand es auch ganz gut, sich mit mir in Gebärden zu unterhalten. Als ich eines Tages wieder neben ihm hockte und die Munition nachführte, ging es auf einmal nicht mehr weiter, das Gewehr zog keine Patronen nach, weil es nicht mehr schoss. Ich sah den Offizier von der Seite an, doch der saß reglos da. Erst als ich seinen Kopf zu mir herum drehte, sah ich, dass ihn ein Kopfschuss getötet hatte! Ich fragte die Kameraden, was zu tun sei, sie sagten, ich solle das Gewehr nehmen und zu einer anderen Stelle tragen. Mensch, war das schwer! Dort bauten wir es wieder auf. Auf die Frage, wer denn nun schießen solle, zeigten alle auf mich. Also schoss ich. Aber da kamen nicht nur einzelne Russen in unsere Linien geschlichen, nein, es waren Massen von Soldaten und sie kamen so schnell! Ich schoss ohne Unterbrechung und tötete so viele, aber trotzdem kamen sie immer näher, wie Ameisen. Denen war nicht bange! Wir suchten weiter Deckung und ich schoss immer weiter die ganze Nacht hindurch, an Schlaf war nicht zu denken. Am Morgen beruhigte sich alles etwas und ich atmete auf, die Gefahr war erstmal vorüber. Ein Berufssoldat kam und rief einige Soldaten zu sich, auch welche von uns Jungs und dann sogar auch mich! Wir mussten uns nebeneinander in einer Reihe aufstellen, dann gratulierte ein Offizier jedem von uns per Handschlag zu unserer Tapferkeit und verlieh uns das Eiserne Kreuz zweiter Klasse für unsere Leistung am Abend vorher. Ich träumte davon, immer weiter zu kämpfen und im Krieg noch viele weitere Orden zu verdienen, doch dazu kam es nicht, denn kurze Zeit später waren wir in Königsberg von den Russen eingekesselt. Es gab keinen Ausweg mehr, sie kamen von allen Seiten. Unsere Zeit zur Verteidigung war abgelaufen. Am 8.April 1944 ergaben wir uns und kamen in Kriegsgefangenschaft.
Wir wurden alle zusammengetrieben und da war ich erstaunt, wie viele deutsche Soldaten nun zusammen kamen. Dann mussten wir sehr weit marschieren, immer weiter fort. Ein Soldat sagte zu mir: „Du wirst dort sterben!“. Ich wollte das nicht glauben, doch er sagte zu mir: „Wir gehen nach Sibirien!“ Ich hatte noch nie von Sibirien gehört und zuckte mit den Schultern. Da beschrieb er mir Sibirien, indem er seine Arme um den Körper schlang und so tat, als würde er jämmerlich frieren. „Wir gehen alle nach Sibirien, aber du solltest besser fliehen, los, hau doch ab!“ Aber es war unmöglich, sich aus dem Treck unbemerkt davon zu stehlen, denn der Zug wurde von beiden Seiten durch russische Soldaten flankiert. Ich kam dann mit zwei bis vier anderen Jungen zusammen in einer kleinen Gruppe, deren Abstand zu den vorderen Leuten immer größer wurde. Dann kam uns ein anderer Gefangenenzug entgegen, das waren nur alte Menschen, mit denen die Russen wohl nichts anfangen konnten. Da stieß mich der Soldat neben mir wieder an und gab mir zu verstehen, mich zwischen die alten Leute zu mischen, wenn der Zug direkt neben uns war. Der Moment war günstig für mich, denn ein Bewacher in meiner Nähe war zum vorderen vorgelaufen, um mit ihm gemeinsam Zigaretten zu drehen. Nun waren beide abgelenkt und ich hatte ein Schlupfloch. Blitzschnell schoss ich rüber in den Treck alter Leute und ging mit ihnen zurück in die Richtung, aus der ich gerade gekommen war. Ich musste schnell meine Soldatenuniform loswerden, um nicht aufzufliegen, doch die Alten schlossen sich eng um mich und schützten mich. Jemand neben mir zeigte plötzlich auf einen in zivil gekleideten Toten am Wegesrand. Schnell entkleidete ich ihn, zog meine Uniform aus und die anderen Sachen an. Die Sachen waren ein bisschen klein, aber immerhin war ich nun nicht mehr als Soldat zu erkennen.
Auf der Hälfte des Wegs mussten wir halten und unsere Bewacher gingen durch die Reihen und sortierten die Leute nach Alter und Größe in verschiedene Gruppen. Alle wurden gefragt, wo sie geboren seien. Als ich an der Reihe war, habe ich immer wieder gesagt, dass ich nichts verstünde, weil ich taubstumm sei und nichts wüsste. Daraufhin wurde ich mit einigen anderen zu einem Keller gebracht, wo bereits andere Gefangene waren. Ich erkannte einen Mann wieder, der in der Nähe unserer Wohnung gelebt hatte. Er sah mich auch und erkannte mich, aber wir ließen uns beide nichts anmerken. Der Kellerboden stand voll Wasser, mir stand es bestimmt bis zum Bauch. Dort mussten wir stehen bleiben. Ich weiß nicht mehr genau, wieviele wir dort unten waren, vielleicht acht bis zehn. Einer schlief im Stehen an die Wand gelehnt. Am nächsten Morgen durften wir den Keller kurz verlassen, schätzungsweise waren es zehn Minuten, ich hatte keine Uhr. Ich vertrat mir die Beine, atmete die frische Luft und ging austreten, als ich einen Haufen schwarzer Ziegelsteine sah. Schnell nahm ich so viele, wie ich konnte. Jemand fragte mich, was ich damit wolle, aber ich achtete nicht weiter auf ihn. Mit den Steinen beladen ging ich wieder hinunter in den Keller. Stück für Stück legte ich die Steine unter Wasser so übereinander, dass ich mich darauf setzen konnte. Zwar ging mir im Sitzen das Wasser bis zum Hals aber immerhin musste ich nicht mehr stehen, denn mir taten die Knie schon weh. So saß ich nun da, meine Kleidung war natürlich völlig durchweicht. Die Anderen sahen das und gaben mir mit Gesten zu verstehen: „Das ist aber schlau!“ Ich gab ihnen Recht.
Am nächsten Morgen wurde einer und später auch ein anderer aus dem Keller nach oben gerufen. Beide kamen zurück. Dann kam ich an die Reihe und musste hoch. Oben saß ein russischer Offizier mit Glatze -könnte ein Kapo gewesen sein- neben ihm ein polnischer Dolmetscher. Ich sah auf den Dolmetscher und erkannte, dass er die Stiefel und den Gürtel meines Vaters trug und fragte mich, wo er die her hatte. Womöglich war mein Vater hier auch in Gefangenschaft? Ich behielt meine Gedanken aber für mich. Die Befragung durch den Offizier lief mehr schlecht als recht mit Aufschreiben. Ich gab zu verstehen, dass ich taubstumm sei und deshalb nicht alles verstehen könne. Die Frage, ob ich bei der Hitler-Jugend gewesen sei, verneinte ich vehement. Doch in diesem Moment schaltete sich der polnische Dolmetscher ein und sagte, er habe mich und andere junge Kameraden schon mal in Uniform gesehen. Ich wunderte mich darüber! Doch es stimmte, er war vor der Kapitulation Kriegsgefangener der Deutschen gewesen und wurde jetzt nach seiner Befreiung wegen seiner Russischkenntnisse als Dolmetscher eingesetzt. Der Offizier forderte mich auf, Strümpfe und Schuhe auszuziehen und die Füße auf seinen Tisch zu legen. Dann gab er mir mehrere heftige Stockschläge auf meine nackten Fußsohlen. Was waren das für Schmerzen! Ich schrie auf und jammerte. Als ich so elend vor ihm saß, wurde er noch wütender und schlug fuchsteufelswild mit der Faust auf den Tisch, sodass sich sein Tintenfass über den Tisch ergoss. Dann bedeutete er mir, ich solle die Tinte aufwischen. Als ich mich suchend nach einem Lappen umsah, sagte er: „Nein, wisch es mit deinem Hemd auf!“ Als die Tinte vollständig aufgewischt war, war mein Hemd ganz schmutzig und nass. Ich reichte es ihm, woraufhin er befahl: „Zieh es wieder an!“ Ich versuchte mich zu wiedersetzen doch er zwang mich dazu. Also zog ich es widerwillig an und verhielt mich still. Der Offizier sagte noch, ich sei ja taubstumm und hätte nichts im Kopf und befahl mir, wieder zurück in den Keller zu gehen. Dort saß ich wieder im Wasser und war jetzt auch bis zum Hals mit Tinte vollgeschmiert. Alles war nass, scheußlich. So verbrachte ich eine weitere Nacht im Keller.
Am nächsten Morgen wurden nacheinander alle meine Mitgefangenen nach oben gerufen. Diesmal kam jedoch keiner von ihnen zurück. Zum Schluss war ich ganz allein im Keller. Dann war ich an der Reihe. Bedrückt schlich ich die Treppe hinauf. Oben war ein Soldat mit bulgarischen Gesichtszügen, einem bulligen Kopf und schmalen Augen. Mit einer Stange schlug er auf meinen Rücken ein, damit ich schneller laufe. Ich konnte aber nicht schneller, denn meine Füße waren noch ganz wund von den Schlägen am Vortag. Ich beeilte mich, so gut es ging, zu den Offizieren hinüber zu humpeln, die in einer Gruppe standen und Papiere durchgingen, dann winkte man mich herüber. Der bullige Soldat wich mir nicht von der Seite. Auf dem Weg sah ich plötzlich, dass alle meine Mitgefangenen aus dem Keller erhängt worden waren, sie hingen da, einer neben dem anderen! Sie hatten die Frage, ob sie Mitglied der NSDAP seien, alle mit „ja“ beantwortet! Und nun waren sie alle tot! Nun wurde ich gefragt, ob ich in der NSDAP sei und ich verneinte. Da wurde ich bis zum Tor geführt und der Soldat sagte zu mir: „Hau ab, geh nach Haus, du bist frei!“ Ich konnte es erst gar nicht glauben! Dann fragte ich ihn, wohin ich gehen solle, welche Richtung die beste sei, doch er sagte nur: „Was weiß ich denn? Das ist deine Sache!“ Ich wusste mir keinen Rat. Sollte ich zurück nach Königsberg gehen? Alle deutschen Straßenschilder waren verschwunden. Alles war auf Russisch geschrieben. Es blieb mir nichts anderes übrig, als einfach drauf los zu marschieren, immer in eine Richtung. Am Abend legte ich mich ganz schlau in einem Stall von einem Bauern schlafen und erwachte am nächsten Morgen mit großem Hunger. Aber was konnte ich essen? In der Ferne sah ich eine Gruppe Soldaten, die etwas in einer Pfanne brieten. Einer sah mich und bot mir Essen an, wenn ich die Pferde der Soldaten versorgen würde. Also mistete ich aus und striegelte alle Pferde. Der Soldat prüfte, wie ich meine Aufgabe erledigt hatte und war zufrieden. Er gab mir dafür einen Eimer voll Kohlsuppe und dazu gab es etwas Brot. Das Brot hob ich für später auf, zuerst machte mich gierig über die Suppe her. Doch sie war nicht sehr sättigend, denn sie bestand fast nur aus Wasser. Ich fischte die wenigen Stücke Kartoffeln und Kohl heraus und stellte den Eimer wieder ab.
Am Abend machte ich mich von dort wieder aus dem Staub. Nach einem fast endlosen Marsch erreichte ich endlich wieder Königsberg. Was war ich da erleichtert! Leider lag das Haus, in dem meine Eltern lebten, wie viele andere auch in Trümmern. Dann ging ich zur Gehörlosenschule- damals sagte man noch „Taubstummenschule dazu“- doch auch sie war dem Erdboden gleichgemacht worden. Dann fiel mir noch die Taubstummenanstalt ein, dort lebte aber nur noch ein Rest von sechs oder sieben Gehörlosen, all die vielen gehörlosen Alten, die dort vorher in einem großen Teil des Gebäudes wohnten, waren fort. Dort konnte ich für einige Zeit schlafen. Auch hier gab es keine guten Nachrichten, viele Gehörlose hatten den Krieg nicht überlebt. Ich lebte dort eine Weile, doch viele der übrigen Bewohner starben und die Russen wollten das Gebäude dann umfunktionieren zu einem Krankenhaus und schmissen uns raus. Da war ich wieder ohne Obdach. Ich blieb in Königsberg bis 1947. Dann traf ich meinen Vater wieder, der zu dieser Zeit nach Königsberg zurückkehrte. Wir hatten uns beide so lange gesucht und waren so froh, uns lebend wiederzusehen! Doch leider starb mein Vater dann kurze Zeit später im selben Jahr an Typhus, das war am 13.März 1947. Daraufhin war ich sehr niedergeschlagen, wieder war ich ganz allein in Königsberg. Aber dann traf ich einen gehörlosen Russen! Wir kamen mit Gebärden ins Gespräch und er zeigte mir, wo ich etwas zu Essen bekommen konnte: Bei seiner Mutter, die die russischen Soldaten bekochte und in einem großen Bäckereibetrieb arbeitete. Dort bekam ich wie auch die Soldaten zu essen. Sie fragte mich, ob ich dort arbeiten wollte und ich willigte ein. Ich war für das Einsacken zuständig und musste die Mehlsäcke mit Schubkarren hin und herfahren. Das war recht anstrengend, aber so bekam ich Brot!
Dann erfuhr ich, dass es einen Suchdienst vom Roten Kreuz gab, bei dem man nach seinen Angehörigen suchen konnte. Es hieß, dort könnte man Post abholen von Verwandten, die hier nach einem suchten. Ich ging dorthin, schrieb denen meinen Namen auf, aber unter den vielen Briefen war leider keine Nachricht von Verwandten an mich. Als der Suchdienst wieder in Königsberg war wurde mir gesagt, ich solle da doch noch einmal hingehen und nach Post für mich suchen lassen. Tatsächlich fanden sie diesmal einen Brief für mich. Starr vor Anspannung begann ich, ihn zu lesen. Mama und mein Bruder lebten noch und waren in Hamburg! Ich dachte nur: „Meine Güte, Hamburg! Das ist ja so weit weg!“ Und ich kannte den Weg dorthin nicht. Ich zeigte den Brief meinem russischen Freund, der mir sofort davon abriet, nach Deutschland zu gehen: „Dort herrscht jetzt große Armut und Hunger! Viele Menschen sterben dort. Bleib lieber hier, hier hast du es besser. Ich suche dir ein russisches Mädel, dann heiratet ihr und bleibt hier.“ Ich ließ mir das durch den Kopf gehen doch schon in der nächsten Nacht hatte ich meinen Entschluss gefasst und verschwand aus Königsberg! Das war 1947- im April, glaube ich. Ich marschierte einfach drauflos. Einmal kam eine große Gruppe gehörloser und hörender Menschen des Wegs, auch ältere Leute waren dabei. Auf meine Frage, wohin sie gingen, antworten sie mir: „Nach Osten!“ Ich kannte den Osten zwar nicht, schloss mich ihnen aber trotzdem an. Nach einiger Zeit wurden wir aufgehalten, es wurden Arbeitskräfte in Leipzig gesucht. Als ich dagegen protestierte, schickte man mich nach Thüringen auf einen Bauernhof. Dort arbeitete ich eine ganze Weile, doch innerlich war ich sehr unglücklich. Eines Tages bat ich den Bauern um etwas zum Schreiben. Ich schrieb meiner Mutter einen Brief und schickte ihn nach Hamburg, ohne zu wissen, ob er sein Ziel erreichte. Doch meine Mutter bekam meinen Brief und war sehr froh, dass ich noch lebte. Vom Schicksal unseres Vaters hatte ich lieber nichts in dem Brief erwähnt. Daraufhin setzte meine Mutter ein Telegramm an mich auf. Darin stand: „ Du bekommst Arbeit und Wohnung. Bitte komm sofort.“ Als ich das Telegramm erhielt, war ich erleichtert und konnte es kaum erwarten, loszugehen. Ich zeigte es dem Bauern. Der verzog nur sein Gesicht und schüttelte den Kopf: „Dort gibt es jetzt eine Grenze, da kommst du nicht durch.“ Ich war verzweifelt, schon wieder eine Sackgasse! Der Bauer hatte Mitleid und gab mir einen Tipp: „Versuch es über die amerikanisch besetzte Zone, die sind nicht so streng und lassen dich vielleicht durch“.
In der Nacht brach ich dorthin auf. Ich schaffte es über die Grenze, doch kurz darauf griff mich ein Amerikaner auf und fragte, woher ich käme. Als ich es ihm sagte, schickte er mich wieder zurück. Zurück auf dem Bauernhof war der Bauer ungehalten. Er sagte: „Warum bist du denn wieder hier? Bist du woanders über die Grenze gegangen?“ Ich ging zum Fahrkartenschalter am Bahnhof, ließ mir wieder Stift und Zettel geben und schrieb auf, ich wolle eine Bahnfahrkarte nach Hamburg kaufen. Die gab es aber nicht, so was konnte man nicht kaufen. Der Bauer riet mir dann, es im Kriegsgefangenen-Auffanglager bei Göttingen zu versuchen: Ich fuhr dann mit dem Zug dorthin. Es lag auf sowjetisch besetztem Gebiet, aber dicht zur britischen Besatzungszone. Ich unterhielt mich mit einer älteren Frau und bedeutete ihr, dass ich taub sei und in den Westen wolle. Sie fragte mich mit Gesten, ob ich denn Papiere hätte. Ich verneinte. Da nahm sie mich unter ihre Obhut, um mir zu helfen. Ich sollte mich bei ihr einhaken und sie schärfte mir ein, dass sie für mich ab jetzt meine Mutter sei. Ich verstand. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zur Grenzkontrolle. Als wir an der Reihe waren, fragte der russische Soldat nach meinen Papieren. Meine „Mutter“ erklärte, ich hätte sie verloren und dass ich gehörlos sei. Da winkte uns der Soldat kurzerhand durch. Bei den englischen Soldaten an der Grenze zur britischen Besatzungszone ging es nicht so leicht weiter. Denn aus dem Auffanglager wollten sehr viele Menschen weiter in die britische Besatzungszone. Ich wurde an die Seite gesetzt und sollte meine Papiere vorzeigen. Aber alles, was ich hatte, war ein Arbeitspass. Der Soldat guckte ungeduldig und mürrisch in das Dokument und legte es zur Seite. Dann fragte er mich, woher ich denn käme. Als ich „Königsberg“ antwortete, wollte er mir nicht glauben, dass ich den ganzen weiten Weg von dort gekommen war. Doch ich nickte nur und zog zum Beweis das Telegramm aus meiner Jacke hervor. Als er die Adresse in Hamburg sah, glaubte mir der Soldat. Aber es wollten ja so viele rüber in die britische Besatzungszone! Er musste sich mit anderen Soldaten beraten: „Ein Gehörloser aus Königsberg, ohne Papiere, das gibt’s doch nicht!!“ Dann fragte mich der Soldat nach meinem Entlassungsbescheid aus der Kriegsgefangenschaft. Doch auch dieses Dokument hatte ich nicht. Schließlich musterte er mich von oben nach unten und winkte mich schließlich durch. Hinter der Grenze wurde ich zunächst ärztlich untersucht. Ich war gesund.
Zwei Tage blieb ich noch dort an der Grenze, dann durfte ich mich in Begleitung einer Krankenschwester auf den Weg nach Hamburg machen. Sie sollte bezeugen, dass ich die Geschichte mit meiner Familie in Hamburg nicht erfunden hatte. Wir kamen mit dem Zug in Hamburg an, bezahlt hat alles die Krankenschwester, ich hatte kein Geld. Wir ergatterten ein Taxi, das uns zur Adresse meiner Mutter fuhr. Als ich klingelte, öffnete mein Tante die Tür, denn da meine Mutter keine eigene Wohnung hatte, war sie vorübergehend bei ihrer Schwester untergekommen. Erst erkannte sie mich nicht, als wir uns so an der Tür gegenüber standen. Doch dann durchfuhr es uns wie ein Blitz, als sie mich, ihren Neffen Rudi erkannte. Ich hatte mich also äußerlich nicht so stark verändert. Voller Freude fielen wir uns in die Arme. Mein Bruder war auch da und lief schnell los, um meine Mutter von einem Besuch zurück zu holen. Meine Mutter hat große Augen gemacht vor Überraschung, sie hat mich sofort wieder erkannt und fiel mir um den Hals, was für eine Freude! Für die Krankenschwester war die Lage somit klar: Ich hatte an der Grenze die Wahrheit gesagt. Meine Mutter fragte gespannt nach unserem Vater, da musste ich die traurige Nachricht überbringen, dass er am 13.März 1947 gestorben war. Daraufhin weinte sie sehr. Ich hatte ihn damals selbst begraben auf dem damaligen alten Friedhof der Königin-Luise-Gedächtniskirche in Königsberg und mir die Stelle mithilfe der Straßenlaternen gemerkt. Meine Tante sagte mir, dass ich eine Arbeit finden müsse, und mir eine Wohnung suchen solle. Im Ortsamt winkte man gleich ab: „Hamburg ist überfüllt, es gibt es keine freien Arbeitsplätze und wenig Wohnraum. Versuchen Sie es in Nürnberg oder in Essen!“ Ich wollte aber auf keinen Fall wieder so weit weg von meiner Familie. Dann wurde ich gefragt, was ich von Beruf sei. Ich antwortete, dass ich keinen Beruf erlernt hatte, ich aber alles machen könne, schließlich hatte ich Erfahrungen in vielen handwerklichen Berufen wie Schlosser, Tischler, Bestatter, Pfleger, Näher, Schuhmacher, Bäcker und vieles mehr. Die Herren dort wunderten sich darüber sehr. Als ich ihnen erklärte, dass ich diese Tätigkeiten alle während meiner Gefangenschaft erledigen musste, nickten sie. Sie sagten, sie wollten sich weiter um mich kümmern. Meine Tante wollte mir dann was besorgen.
Ein paar Tage später war Weihnachten 1947, da konnte die ganze Familie endlich wieder zusammen feiern. Darüber war ich sehr froh. In den ersten Januartagen 1948 suchte ich weiter nach einer Arbeit und wurde schließlich in einer Werkstatt für Behinderte fündig. Dort erfuhr ich bei den Einstellungsgesprächen auch gleich, dass es dort noch andere gehörlose Arbeiter gab. Man wollte mich dort als Schuhmacher einsetzen, aber zu dieser Tätigkeit hatte ich keine große Lust mehr. Ich fragte, was es sonst noch an Aufgaben für mich gäbe und bekam „Tischlern“ zur Antwort. Das wollte ich gern machen, und ich hatte darin schon viel Erfahrung aus der Zeit meiner Gefangenschaft: Schleifen, Sägen, das Bedienen der Maschinen, all das konnte ich schon. Am 8. Januar 1948 wurde ich eingestellt und mir fiel ein großer Stein vom Herzen. Am Anfang war ich nur ein Hilfsarbeiter, was sehr anstrengend für mich war. Vom Verdienst blieb mir nicht viel übrig, denn das meiste Geld habe ich meiner Mutter gegeben. Nach einiger Zeit erkannten meine Vorgesetzten aber meine sehr gute Leistung und dass ich über handwerkliches Geschick verfügte. Deshalb schlugen sie mir eine Lehre vor. Ich konnte mir erst schlecht vorstellen, wie ich von dem niedrigen Lehrlingsgehalt meine Mutter mit ernähren sollte und besprach die Sache mit ihr. Sie sagte aber, dass eine gute Ausbildung wichtig für die Zukunft sei und bestärkte mich darin, eine Lehre zu beginnen. Als ich das meinem Chef mitteilte, war die Freude groß. Am 1.April begann ich meine Lehre dort und nach meiner Gesellenprüfung wurde ich von der Firma übernommen. Von da an blieb ich also fast 42 Jahre bis zur Pensionierung dort und jetzt bin ich Rentner. Tja, so ist das!
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Übersetzung: Britta Harms und Michaela Matthaei