Anerkennung der DGS (1981 - 1989)
Kampf um Anerkennung der DGS - Teil 1 (1981 - 1989) (Stefan Goldschmidt, 2008)
Übersetzung
Die Erforschung und wissenschaftliche Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache (DGS) war ein historischer Meilenstein für die Gehörlosengemeinschaft, der einen umfassenden Emanzipationsprozess bei Gehörlosen ausgelöst hat. Die Entwicklungen zu einem neuen Bewusstsein über die Deutsche Gebärdensprache begannen in Deutschland Mitte der 1970er Jahre.
Zuvor wurden gehörlose Menschen, bedingt durch die Beschlüsse des Mailänder Kongresses im Jahre 1880, gesellschaftlich stark benachteiligt. Gehörlose Lehrer wurden entlassen und die Gebärdensprache durfte an Gehörlosenschulen nicht mehr verwendet werden. Fortan folgte der Unterricht streng der angeordneten „Oralen Methode“. Diese Einschnitte in der Gehörlosenbildung beeinträchtigten das Selbstbewusstsein der Gehörlosengemeinschaft enorm. Die Unterrichtsinhalte, die nur noch über die Lautsprache vermittelt wurden, erreichten die gehörlosen Kinder lediglich bruchstückhaft. Trotz größter Anstrengungen der Schüler häuften sich die Misserfolge beim Lernen, wofür nicht die Unterrichtsmethode sondern die Gehörlosigkeit verantwortlich gemacht wurde. In der Seele der Kinder setzte sich ein starkes Minderwertigkeitsgefühl gegenüber Hörenden und ihrer Lautsprache fest, das oft ein Leben lang anhielt. Obwohl die Gehörlosengemeinschaft immer wieder auf den Reichtum ihrer gebärdensprachlichen Kommunikation und die darin liegenden Bildungschancen hinwies, wurde die Gebärdensprache von Hörenden als primitive „Affensprache“ abgewertet und unterdrückt. Generationen von Gehörlosen wurden auf diese Weise von Hörenden stigmatisiert. Die hörende Mehrheitsgesellschaft bildete für Gehörlose eine unüberwindbare Macht, gegen die sie verzweifelt ankämpften oder der sie sich resigniert unterordneten.
Erst in den 1960er Jahren begann ein spektakuläres Umdenken, das vor allem durch einen amerikanischen Linguisten an der Gallaudet-Universität ausgelöst wurde: William Stokoe. 1962 veröffentlichte er seine Forschungsergebnisse zur Amerikanischen Gebärdensprache (American Sign Language, kurz: ASL). Stokoe sah es als erwiesen an, dass die ASL eine eigenständige vollwertige Sprache ist, die genauso leistungsfähig und ausdrucksstark ist wie Lautsprachen. Darüber hinaus konnte er die einzelnen Bausteine eines Gebärdenzeichens identifizieren und beschreiben, wie z.B. die Handform, die Bewegung und die Ausführungsstelle einer Gebärde.
Stokoes brisante Erkenntnisse sorgten zu Beginn in den wissenschaftlichen Fachkreisen für Aufsehen und Skepsis. Sogar die Gebärdensprachnutzer, die Gehörlosen selbst, zweifelten zunächst an Stokoes Ansichten: Gebärdensprache war schließlich gesellschaftlich verpönt und die Sichtweise der Hörenden auf ihre „primitive“ Gebärdensprache hatte bereits einen festen Platz in ihrem Selbstbild. Es brauchte etwas Zeit, um dieses negative Selbstbild aufzuweichen, doch Stokoes Erkenntnisse entfalteten ihre Wirkung. Die Gehörlosen in den USA lernten Schritt für Schritt, sich selbst und ihre Gebärdensprache wertzuschätzen.
In Deutschland wurde die Gebärdensprache zu dieser Zeit nach wie vor nicht Ernst genommen. An den Gehörlosenschulen war sie noch immer verboten und die Verständigung mit Hörenden mittels Sprechen und Ablesen vom Mund war in der Regel schambesetzt, mühsam und frustrierend. Lediglich bei Kontakten innerhalb der Gehörlosengemeinschaft, wie z.B. im Vereinsleben konnten sich Gehörlose ohne Hemmungen und Barrieren in der Gebärdensprache unterhalten. Dort entfaltete sich ganz langsam ein positiveres Bild gegenüber der eigenen Sprachform: Im Unterschied zu älteren Gehörlosen, die ihre gebärdensprachliche Kommunikation noch als „Plaudern“ bezeichneten, entwickelten die Gehörlosen in den 1970er Jahren nun den Begriff „Gebärden“.
Der Begriff „Sprache“ tauchte allerdings noch nicht auf. Ab 1975 gab es in Deutschland die ersten „Gebärdenkurse“ für Hörende an Volkshochschulen. Die Teilnehmer dieser Kurse lernten dort jedoch noch keine reine Gebärdensprache sondern eine Kommunikation, die heute als „Lautsprachbegleitendes Gebärden“ (LBG) bezeichnet wird. Dennoch hatten diese Kurse eine Signalwirkung und Hörende lernten, sich mit Gehörlosen mittels Gebärdenzeichen zu verständigen.
Einen weiteren Anstoß für die Entfaltung der Deutschen Gebärdensprache gab die neue Theatergruppe „Thow Show“ im Jahr 1979. Der Namensteil „Thow“ setzt sich zusammen aus „Theater ohne Worte“. Die Gruppe gehörloser Schauspieler aus München entwickelte ein Kontrastprogramm zum Deutschen Gehörlosentheater, welches seit der Gründung einige Theaterstücke aufgeführt hatte, diese jedoch mit gesprochenen Texten in LBG zeigte. Die Mitglieder von „Thow Show“ zeigten nun dem gehörlosen Publikum, dass Theater auch ohne lautsprachliche Anteile funktioniert. Zum ersten Mal gebärdeten gehörlose Schauspieler raumgreifend und mit ausdruckssstarker Mimik. Der Gruppe gelang es, das gehörlose Publikum in den Bann einer spannenden Handlung zu ziehen und es dabei emotional zu berühren. Die Zuschauer waren begeistert und überwältigt von dieser neuen Form der Darbietung und nahmen die neuen gebärdensprachlichen Ausdrücke mit großem Interesse auf. „Thow Show“ setzte die Hoffnungen der Gehörlosen um, die insgeheim wussten, dass Gebärdensprache mehr als LBG war.
1981 fand in Hamburg ein erster Gebärdensprach-Workshop statt, zu dem gehörlose Gebärdensprachdozenten aus den USA eingeladen wurden, die über ihre Arbeit berichteten. Im Austausch reiste eine deutsche Gruppe in die USA, um die dortigen Entwicklungen vor Ort zu erleben und nach Deutschland zurück zu bringen. Dabei erfuhren die Beteiligten auch, dass andere Gebärdensprachen häufig Kurznamen tragen: So wurde die Amerikanische Gebärdensprache bereits damals als „ASL“ (Anfangsbuchstaben von „American Sign Language“) die Spanische Gebärdensprache „LSE“ und die Französische Gebärdensprache abgekürzt als „LSF“ bezeichnet. Die Deutsche Gebärdensprache erhielt daraufhin auch eine Kurzform: „DGS“.
Im Jahre 1982 wurde vom Deutschen Gehörlosenbund das sog. „Münchner Papier“, ein Appell an die Vertreter der Gehörlosenpädagogik verfasst. Darin bezog der Gehörlosenbund Stellung zur Unterrichtskommunikation an Gehörlosenschulen und appellierte daran, im Unterricht mit gehörlosen Kindern eine gebärdensprachliche Kommunkationsform einzuführen, d.h. LBG zu verwenden. Das Papier wurde von zahlreichen Gehörlosen unterzeichnet und dann verschiedenen schulpolitischen Entscheidungsträgern übergeben. Verantwortlichen überreichtsetzte ein erstes Zeichen für die späteren Entwicklungen.
1983 wurde an der Universität Hamburg die „Forschungsstelle für Gebärdensprache“ um den Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Siegmund Prillwitz gegründet. Den Kern der Gruppe bildeten drei Gehörlose: Heiko Zienert, Alexander von Meyenn und Wolfgang Schmidt. Außerdem nahm Regina Leven an den regelmäßigen Treffen teil: Selbst hörend, aber als Kind gehörloser Eltern mit der Gebärdensprache aufgewachsen, ermöglichte sie als Dolmetscherin die Verständigung in der Gruppe zwischen Hörenden und Gehörlosen. Zusammen mit Prillwitz’ linguistischer Expertise und dem intuitiven Wissen der Gehörlosen über die Bestandteile und Regeln ihrer Sprache brachte die Gruppe immer größere Teile der Struktur der DGS zum Vorschein. 1985 lud die Hamburger Forschungsgruppe zu einem internationalen Kongress mit dem Titel „Die Gebärde in Erziehung und Bildung Gehörloser“ ein. Mit dieser Veranstaltung sollten vor allem die Vertreter der Gehörlosenpädagogik informiert werden. In den Vorträgen wurden die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Gebärdensprache vorgestellt, in denen auch zum Ausdruck gebracht wurde, wie wichtig die Gebärdensprache für die soziale, emotionale und geistige Entwicklung gehörloser Kinder war. Die Gehörlosenpädagogen wurden aufgefordert, gebärdensprachliche Kommunikation in den Unterricht zu integrieren. Als der gehörlose Heiko Zienert aus dem Hamburger Forscherkreis die Bühne betrat, kochten die Emotionen im Saal hoch. Die gehörlosen Kongressteilnehmer waren begeistert, weil endlich jemand aus ihrer Gemeinschaft auf der Bühne stand und nicht in LBG sondern in reinster Gebärdensprache verständlich seine Meinung vertrat. Die hörenden Zuschauer reagierten unterschiedlich: Einige verließen wutschnaubend die Veranstaltung, bei anderen wurden erste Denkanstöße ausgelöst. Im Rahmen des Kongresses verteilten die Forscher aus Hamburg die ersten dokumentierten Ergebnisse zur Erforschung der DGS, die „Skizzen zu einer Grammatik der Deutschen Gebärdensprache“, ein schmales Heft mit einer einführenden Beschreibung zum Aufbau von Gebärden und ihrer grammatischen Struktur.
Auf diese Weise drangen die ersten schriftlichen Forschungsergebnisse zur Deutschen Gebärdensprache an die Öffentlichkeit.
1987 wurde als Nachfolgeeinrichtung aus der „Forschungsstelle für Gebärdensprache“ an der Universität Hamburg das „Zentrum für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser“ gegründet. Dieser Schritt war ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der Gebärdensprachforschung in Deutschland und hatte eine enorme gesellschaftliche Signalwirkung auf die Gehörlosengemeinschaft. Mit der Gründung des Zentrums wurden Gehörlose endlich in ihrem Wissen bestätigt, mit der Gebärdensprache eine vollwertige erforschenswerte Sprache zu besitzen. Auch auf europäischer Ebene lockerten sich die Barrieren gegenüber der Gebärdensprachen. Die Europäische Union veröffentlichte 1988 die Empfehlung, die Gebärdensprachen in den Mitgliedsländern gesetzlich als eigenständige Sprachen anzuerkennen. Darüber hinaus eröffneten sich neue Bildungschancen für Gehörlose durch eine weitere Innovation: den Einsatz von qualifizierten Gebärdensprachdolmetschern.
Ende der 1980er Jahre schrieben sich an der Universität Hamburg erstmals Gehörlose ein, die mit Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern ihr Studium ableisten wollten.
___
Übersetzung: Britta Harms und Michaela Matthaei