Anfänge der Gebärdensprachforschung in Deutschland
Von den Anfängen der Gebärdensprachforschung in Deutschland bis zur wissenschaftlichen Anerkennung der DGS (mit Ton) (Prof. Dr. Siegmund Prillwitz, 2012)
Übersetzung
Interviewer (Stefan Goldschmidt):
Was waren die Anfänge der Gebärdensprachforschung in Deutschland und wie wurde herausgefunden, dass die DGS eine eigenständige Sprache ist?
Prof. Dr. Siegmund Prillwitz:
Eigentlich begann es gar nicht so sehr mit der Gebärdensprache, sondern mit den Gehörlosen, die ja bis in die 90er Jahre hinein in erster Linie als Behinderte betrachtet wurden. Die Gebärdensprache war ja damals gar nicht anerkannt sondern eher verpönt, und entsprechend waren die Gehörlosen auch in der Bildung, im Beruf und auch allgemein im sozialen Umfeld schwer zu integrieren, weil sie einfach nicht kommunikativ eingebunden werden konnten in die hörende Gesellschaft. Und wenn, dann nur sehr begrenzt durch die geringen Ablese-und Sprechmöglichkeiten, die sich die Gehörlosen -nicht zuletzt mithilfe des Schulsystems- erworben hatten.
Im Grunde fing alles Ende der 70er Jahre an: Damals gab es eine Anfrage des Bundesfamilienministeriums zur Situation der Gehörlosen, woraufhin ich die ganze Forschung, insbesondere im anglo-amerikanischen Bereich, aufgearbeitet habe. Dabei stellte sich eigentlich immer wieder heraus: In erster Linie liegt die Ursache des Problems daran, dass die Gehörlosen einfach kommunikativ abgeschnitten waren und zwar in der Ausbildung und in der Schule. Aber sie waren auch schon vor Beginn der Schulzeit in der Familie bereits kommunikativ außen vor, weil über 90 Prozent der gehörlosen Kinder ja hörende Eltern haben, das heißt es konnte sich keine normale Alltagskommunikation entwickeln. Und das ging dann immer weiter, über Kindergarten, Schule, Berufsausbildung, als Erwachsene im Beruf usw.
In der Forschung, vor allem in der Psychologie und in der Gehörlosenpädagogik, wurde das immer wieder so interpretiert, dass eben die Gehörlosen die „richtige“ Sprache nicht erwerben könnten und die Problematik daran läge. Und dadurch, dass die Gehörlosen nicht die Lautsprache hätten, wären auch alle anderen Entwicklungsbereiche unterbelichtet, insbesondere in Bezug auf abstrakte Begriffe und Lernprozesse. Aber wie wir dann eben im Laufe der 80er Jahre und 90er Jahre belegen konnten-und mit „wir“ meine ich in erster Linie die gehörlosen Lektoren am Zentrum und das dortige Forschungsteam, war die Gebärdensprache durchaus etwas Vergleichbares und für Linguisten sogar etwas sehr Faszinierendes, weil man eigentlich in der visuellen Gebärdensprache faktisch auch alles das ausdrücken kann, was man in oralen Lautsprachen vermag.
Und jetzt drehte sich auf einmal die ganze Argumentation um, die früher gegen die Gebärdensprache lief, und wurde zu einem Argument für die Gebärdensprache. Wenn nämlich die Gebärdensprache alles das kann, was Lautsprachen auch können, dann kann sie natürlich für Gehörlose viel mehr als jede Lautsprache, weil Gehörlose die Lautsprache nicht hören können und deswegen nur begrenzt an sie heran kommen.
Und das hat dann eben dazu geführt, dass man Ende des letzten Jahrhunderts von Schweden angefangen über Mitteleuropa, in den USA (z.B.in Gallaudet) weltweit immer mehr gemerkt hat: Aha, die Gehörlosen sind eigentlich ein ganz normales Völkchen, nur eben mit einer völlig anderen Sprache. Wenn wir die gehörlosen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen in ihrer Sprache akzeptieren, dann sind auf einmal die Hauptprobleme weg. All die Dinge, die mit Sprache zusammenhängen wie Lernen, soziale Beziehungen, abstraktes Denken, Wissenserwerb usw. können sich dann altersgemäß entwickeln.
Wir müssen die Gebärdensprache nur zulassen, denn diese visuelle Sprache kann für Gehörlose im Gegensatz zur Lautsprache ja voll funktionieren, soweit sie gebärden können. Für einige Gehörlose war das allerdings gar nicht selbstverständlich, weil sie in der oral ausgerichteten Früherziehung und Schule gar nicht in der visuellen Sprache aufwachsen durften. Aber wenn sie über die Gebärdensprache verfügen, und erwachsene Gehörlose taten das ja früher auch schon weitgehend, dann ist für sie die Welt auf einmal in Ordnung. Besonders wenn man so was hat, wie hier neben mir sitzt, nämlich eine kompetente Gebärdensprachdolmetscherin, die einfach zwischen zwei gleichberechtigten Sprachen vermittelt.
Also das war eigentlich der Knackpunkt: Man musste die ganze Argumentation auf einmal total umdrehen: Gebärdensprache war keine Gefahr für die Gehörlosen, weil sie dann die Lautsprache und alles was mit Sprache zusammenhängt nicht entwickeln konnten, sondern genau umgekehrt: Erst die Gebärdensprache macht es möglich, weil sie alles kann was Lautsprachen auch können und durch sie gehörlose Kinder altersgemäß in diese ganzen sprachlichen Kommunikations- und Lernprozesse und Beziehungszusammenhänge reinkommen. Und dadurch können sie vor vielen schlimmen Erfahrungen bewahrt werden, weil sie eben nicht abgeschnitten von den Eltern, Erziehern, von Wissen und Beziehungen zur hörenden Welt sind.
Wenn sie einfach in ihrer Sprache akzeptiert werden und dann die Schule auch noch versucht,- und das tut sie im Grunde ja, wenigstens heute -, sich das für den Lautsprachaufbau und den Schriftspracherwerb zunutze zu machen, dann ist die Gebärdensprache sogar ein durchaus wichtiges Hilfsmittel. Durch die Gebärdensprache bekommen die Kinder Zugang zur Laut-und Schriftsprache und können auch Fremdsprachen lernen, weil sie auf einer normalen Grundlage einer gebärdensprachlichen Sozialisation und Entwicklung sich in diese lautsprachlichen Zusammenhänge begeben können.
In speziellen Situationen braucht man dann nur noch einen guten Dolmetscher und schon hat man eigentlich nicht mehr Probleme bei der Verständigung als z.B. ein amerikanischer Philosoph, der die Deutsche Sprache nicht beherrscht und sich in Deutschland auch eines Dolmetschers bedienen muss.
Also das ist so die grobe Argumentationslinie und wenn ich heute zurück blicke, ist es schon faszinierend, wie schnell sich eigentlich diese 100 Jahre andauernde reine „deutsche“ bzw. „orale“ Methode in eine Zweisprachigkeitsmethode erweitert hat. Es ist ja nicht so, dass die Lautsprache und Schriftsprache für Gehörlose nicht mehr nötig wären, aber sie sind eben nicht mehr das Nadelöhr, durch das allein Gehörlose einen Zugang zur Welt der Hörenden bekommen. Nein, sie haben über ihre Gebärdensprache, Dolmetscherinnen und Dolmetscher einen altersgemäßen Zugang zu den unterschiedlichsten Bereichen und werden heute auch ganz anders angesehen als noch vor 30 Jahren.
Wir haben das ja an der Uni Hamburg gemerkt (zum Interviewer: „Du selbst hast da ja auch studiert.“), wie Gehörlose in den Hörsälen eigentlich nicht als die „armen Behinderten“ in die Ecke gestellt wurden sondern eher interessante anderssprachige Menschen waren, zu denen dann manchmal sogar schon zuviel Kontakt gesucht wurde. Das ist eine tolle Entwicklung: In zwei, drei Jahrzehnten hat sich in allen Bereichen vieles ganz massiv verändert und nicht zuletzt deswegen, weil die Gehörlosen ihre Sache dann auch selbst in die Hand genommen haben: In der Forschung geschah dies als Erstes am Gebärdensprach-Institut in Hamburg aber auch später an anderen Forschungsstandorten wie Berlin, Potsdam, Aachen und weiteren Stellen in Deutschland. Aber auch weltweit hat sich die Gehörlosengemeinschaft selbst rehabilitiert, indem sie im Bereich der Gebärdensprache in Forschung, Lehre und Ausbildung aufgrund ihrer Kompetenz in Sachen Gebärdensprache und Gehörlosenkultur auf einmal bessre waren als die Hörenden. Denn die Hörenden, ob nun Forscher oder Lehrer, konnten die Gebärdensprache natürlich nicht so verwenden wie es Gehörlose können, die in dieser Sprache groß geworden sind.
So, das war nun inhaltlich ein richtiger „Rundumschlag“, aber ich glaube es ist schon wichtig zu sehen, wo wir hergekommen sind, denn ich habe z.B. bei Studierenden in den letzten Jahren immer wieder gemerkt: Die können sich gar nicht mehr vorstellen, dass die Gebärdensprache einmal verpönt war oder als „Affensprache“, „subhumanes Kommunikationsmittel“ oder bestenfalls als „Notanker der Gehörlosen“ betrachtet wurde.
Die Zeitspanne, in der sich diese massive Entwicklung vollzogen hat, war schon sehr kurz und nun müssen die Gehörlosen nur aufpassen, dass diese Entwicklung nicht wieder zurück gedreht wird. Heute stellt sich z.B. die Frage: „Welche Rollen spielen Implantate?“ oder „Wie kann man auch die medizinische Seite so integrieren, dass sie hilfreich ist und nicht vielleicht zu vielen Kindern einen normalen Entwicklungsweg versperrt?“ Meiner Meinung nach: Man muss die Dinge nicht gegeneinander stellen sondern nebeneinander und dann schauen, was mit welchen Wegen in welcher Konstellation vielleicht das Sinnvollste ist.
Und insofern denke ich auch: Wir sind lange raus aus diesen Grabenkriegen in den 80er und frühen 90er Jahren, wo es wirklich um das substantielle Grundrecht der Gehörlosen auf ihre Gebärdensprache ging. Damals bekämpfte man sich richtig, „Oralisten“ gegen sogenannte „Manualisten“. Die Zeit ist zum Glück in dieser Schärfe vorbei und jetzt heißt es im Grunde, verschiedene Schwerpunkte für Gehörlose möglichst gut bereit zu stellen und was das Wichtigste ist und viele Probleme löst: Man muss dabei die Gehörlosen soweit wie möglich die Sache selbst, im wahrsten Wortsinn, „in die Hand nehmen“ lassen. Denn dann muss man viel weniger erklären. Wenn Hörende auf einmal sehen, wie Gehörlose selbst Unterricht geben, wie sie bestimmte Dinge im Beruf erlernen, wie sie miteinander lernen, miteinander umgehen und kommunizieren in dieser visuellen Sprache, dann ist schon viel gewonnen. Bei der konkreten Umsetzung in den verschiedensten Bereichen bleibt trotzdem immer noch genug Arbeit zu tun, aber da ist dann Detailarbeit der Fachleute gefragt und eben auch die Mitarbeit der Gehörlosen, die sich in diesen Situationen als Schüler, Berufsauszubildende oder Berufsausübende befinden.
Ja, die Situation hat sich wie gesagt schon massiv entspannt, bis hin zu den Medien, die es dann ja auch irgendwie gemerkt haben, auch wenn sie damit kein Geld machen können. Jetzt geht es mehr gegen die privaten Fernsehsender, die ja immer aufs Geld gucken müssen. Die Öffentlich-Rechtlichen haben ja einen Art staatlichen Zwang auferlegt gekriegt, insbesondere der Fernsehsender „Phoenix“. Dazu haben wir auch mit Gehörlosen zusammen im Gehörlosenbereich nachgeforscht, wie das Fernsehen für sie funktioniert. Also selbst diese wichtigen Kommunikationsbereiche, wie Fernsehen, Film usw. haben inzwischen eine bedeutende Rolle dabei übernommen, das Bild von Gehörlosen nachhaltig zu verändern und zwar zum Positiven hin.
___
Übersetzung: Britta Harms und Michaela Matthaei