Geschichte des Instituts für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikaton Gehörloser (IDGS)
Zur Geschichte des Instituts für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikaton Gehörloser (IDGS) (mit Ton) (Prof. Dr. Siegmund Prillwitz, 2012)
Übersetzung
Interviewer (Stefan Goldschmidt):
Das Institut wurde ja 1987 gegründet. Welche Ziele und Auswirkungen des Instituts kannst du uns nennen?
Prof. Dr. Siegmund Prillwitz:
Angefangen hat es 1979 mit meiner bescheidenen Forschungsstelle in der Germanistik, der „Forschungsstelle DGS“. Jeden Montagabend, bevor ich mit meiner Geige zu meinem Streichquartett ging, trafen wir uns bei mir zu Hause: Heiko Zienert, Alexander von Meyenn, Wolfgang Schmidt- drei gehörlose „Intellektuelle“- und Regina Leven. Sie ist Kind gehörloser Eltern und wurde später Professorin für Gebärdensprache in Potsdam. Sie hat immer die Dolmetscherfunktion übernommen. Das war über einige Jahre hin meine Klippschule für Gebärdensprache.
Innerhalb der universitären Forschungsstelle konnten wir schon ein bisschen was machen, wir hatten ein kleines Budget für Hilfskräfte oder Bibliotheksanschaffungen und bald expandierte das Ganze durch die ersten Projekte, die wir eingeworben hatten und ich konnte durchsetzen, dass uns der damalige Präsident der Uni Hamburg, Dr. Fischer-Appelt, ein paar Räume in der Rothenbaumchaussee zur Verfügung stellt. Als Nicht-Hamburger muss man wissen: Das ist die teuerste Gegend Richtung Alster und liegt sehr zentral am Dammtor bei der Uni. Da hatten wir also eine dreigeschossige Villa, von der wir ca. 20% der Räume nutzen durften, total runtergekommen. Erstmal haben wir mit Gehörlosen zusammen dieses Zentrum wochenends in unserer Freizeit renoviert und das hat auch Spaß gebracht. Sowas schweißt so ein Team von Kopfmenschen ganz gut zusammen, wenn sie mal was mit ihren Händen machen müssen, nicht nur gebärden sondern tapezieren, Parkett abschleifen und sonstwas.
Danach sind wir dann 1987 offiziell zum „Zentrum für Deutsche Gebärdensprache“ geworden, noch kein Institut aber eine etablierte Sache. Dadurch ließen sich dann auch Drittmittel leichter einwerben, weil sich dann immer mehr um dieses Zentrum scharte, und wir haben Gebäude und sogar die ersten Dauer-Stellen für Gehörlose bekommen. Der Uni-Präsident sagte aber: „Das ist es jetzt auch.“ Damit meinte er diese eine halbe Etage in der Rothenbaumchaussee, mehr dürfe ich nicht erwarten. Na gut. Wir haben ja noch andere Präsidenten bekommen, aber auch schon beim ersten, bei Fischer-Appelt, hat sich das ziemlich schnell ausgeweitet, sodass wir bis heute im Grunde die ganze Villa in der Rothenbaumchaussee zur Verfügung haben und noch ein weiteres Stockwerk in der Binderstraße. Über 20, 30 Jahre hat die anfangs kleine Forschungsstelle über eine Vielzahl von Drittmittelprojekten und Zuweisung von Stellen immer mehr ausgeweitet. Zu ABM-Zeiten arbeiteten durchgehend ca. 45-50 ABM-Gehörlose in den Projekten, zusätzlich ein halbes Dutzend festangestellte Gehörlose wie z.B. die Lektoren und auch hörende Fachleute.
Es gab also immer schon eine Mischung aus Hörenden und Gehörlosen am Institut und das war mir auch wichtig. Dass ich nicht mit der Gebärdensprache groß geworden bin, oder sie so beherrsche, dass ein Gehörloser mich als Gehörlosen akzeptieren könnte, finde ich im Nachhinein auch gar nicht so schlecht. Denn auch mir waren immer Grenzen gesetzt, das heißt wir konnten wirklich nur zusammen etwas machen. Es gab die Gehörlosen mit ihrer Gebärdensprache, die sie unterrichtet und erforscht haben und dann Fachleute, wie z.B Thomas Hanke, der sich mit der multimedialen Technik auskennt oder eben andere, die aus den Bereichen der Linguistik oder Pädagogik kommen.
Ich glaube, das ist ein Gütezeichen, das in der Gebärdensprachforschung weltweit selten zu finden ist. Denn meistens wurden Gehörlose von Linguisten nur als attraktive „Datenspender“ genutzt und erforscht, d.h. als Native Signer im Grunde „gebraucht“, um bestimmte Forschungsergebnisse zu bekommen. Aber meistens kam dann dabei mehr eine Qualifizierung des hörenden Fachwissenschaftlers heraus, als dass das Forschungsergebnis wirklich der Gemeinschaft half. Und so etwas war im Zentrum für Deutsche Gebärdensprache zum Glück schon mal gar nicht möglich, denn wirklich: Nur zusammen waren wir so gut und dieses Miteinander hat auch durchweg gut geklappt. Auch Spannungen sind dann leicht zu ertragen, die immer da sind, wenn 40, 50 Leute zusammen arbeiten.
Aber wie gesagt: Dieses Miteinander ist ein Modell geworden- darauf bin ich eigentlich genauso stolz wie auf die Forschungsergebnisse. Die Zusammenarbeit von hörenden und gehörlosen Fachleuten funktionierte und dabei kam jeder, auch die Hörenden mit ihrer Lautsprache, in seiner Sprache zum Zuge, sodass jeder genau wusste, was der andere sagen will, wenn’s wirklich drauf ankam. Und auch sonst hat man sich wechselseitig respektiert und auch akzeptiert, dass niemand, egal ob hörend oder gehörlos, in beiden Sprachen, d.h. Laut- und Gebärdensprache- voll kompetent war, mit Ausnahme der dolmetschenden Personen, die ja durchweg Hörende waren aber doch sehr gut in der DGS zu Hause waren. Also diese Mischung kennzeichnet das Zentrum für Gebärdensprache und ich habe für mich persönlich bereits ziemlich früh hinsichtlich der Frage entschieden: „Geht’s hier eigentlich um wissenschaftliche Forschung und wissenschaftliche Karrieren und Highlights oder geht es nicht eher um die Betroffenen?“ Letzteres stand im Vordergrund: Wir haben nicht Wissenschaft um der Wissenschaft willen gemacht. Wir hätten auch z.B. Grammatiktheorien mithilfe der Gebärdensprache auf neue Beine stellen können, also in die Universalien-Thematik von Chomsky reinfunken können, die nur anhand von Lautsprachen definiert war. Das wäre auch interessant gewesen. Nein, wir haben die Gebärdensprache erforscht, damit sie in dem Lebenszusammenhang der Betroffenengruppe, d.h. der Gehörlosen allmählich den Platz einnehmen konnte, der ihr unserer Meinung nach zustand, nämlich als das zentrale integrierende Kommunikationsmittel für Gehörlose, ganz gleich, ob es um Kleinkinder, Vorschulkinder, Schulkinder, Lehrlinge, Gehörlose in Ausbildung oder Studium oder auch Freizeit und Kultur ging. Auch den Bereich der Kirche darf man nicht vergessen. Aber dort war man eigentlich schon früher als in der Pädagogik auf dem richtigen Weg und hat im Gehörlosen schon immer den Menschen gesehen und nicht einen in erster Linie „kaputten“ Menschen, dem eben die Sprache aufgrund des Hörschadens fehlt.
Das ist so die Mentalität bzw. die Grundidee dieses Zentrums gewesen und –wie ich finde- auch heute noch. Und wenn ich auf die 25 oder 30 Jahre, die ich dem Zentrum vorstand, zurückblicke, habe ich das Gefühl, das eine Sache mindestens so wichtig war wie die Einzelergebnisse, die in der Forschung für die Wissenschaft bzw. für die Pädagogik herauskamen: Es gemeinsam machen, im wechselseitigen Respekt der Zweisprachigkeit, sodass keiner benachteiligt werden musste.
Das war ein Prinzip, in bestimmten Situationen war natürlich auch mal kein Dolmetscher da, aber dann raufte man sich zusammen, weil man genau wusste: „Dann müssen wir das jetzt irgendwie anders hinkriegen.“ Von den Hörenden haben ja auch viele zumindest soweit Gebärden gelernt, dass eine einigermaßen sichere Kommunikation mit Gehörlosen möglich war. Und auch viele Gehörlose haben ihre lautsprachlichen und schriftsprachlichen Mittel bewusst eingesetzt und verfeinert, um diese Kommunikation zustande zu bringen, das war auch wichtig. Nicht, dass man ideologisch wird und sagt: “Hier ist ein Institut für DGS, also müssen alle DGS können, und die’s nicht können, gehen nach Hause.“ Also ich glaube, diese Toleranz, diese wechselseitige Offenheit ist das beste Klima, von dem aus man sich auch in andere Bereiche bewegen kann, die nicht unbedingt zur Uni gehören, wie z.B. die Dolmetscherausbildung, die Pädagogik, die Technik. Auch, was die Beurteilung des Implantats betraf: Da bin ich ja oft zu den Sitzungen in den verschiedenen Bundesländerregierungen eingeladen worden, wo die Mediziner und Pädagogen zusammenkamen und dann zum Glück auch immer mehr die politischen Organe der Gehörlosen, z.B. Landesverbände, vertreten waren.
Aber bei den Gehörlosenverbänden war es oft auch so, dass da gar nicht die „echten DGS-Gehörlosen“ saßen sondern vielmehr Schwerhörige, die in der Vergangenheit ja immer noch am Ehesten in der hörenden Welt die Interessen der Gehörlosen durchsetzen und vertreten konnten. Da hat es ja ziemlich viel Kampf und Streit gegeben, z.T. auch mit Verletzungen, die da verteilt worden sind und an verdiente meist ältere LBG-Anhänger im Gehörlosenbereich gerichtet waren, die die DGS nicht so ganz akzeptieren konnten, das war am Anfang eigentlich das Hauptproblem. Dass die Hörenden, die Pädagogen, damit Probleme hatten, lag ja in der Natur der Sache. Wenn dann aber die politischen Vertreter der Gehörlosen selbst das nicht mit vertreten sondern dagegen argumentieren, dann war das immer sehr schwierig.
Ich hab dann immer versucht, Verständnis für die Betroffenen zu wecken, d.h. bewusst zu machen, wo sie herkommen, durch welche Sozialisation sie gegangen sind und was sie eigentlich meinen. Das war ja auch damals alles noch ziemlich verschwommen: DGS und LBG- eine ziemlich wirre Zeit. Und dass daraus keine irre Zeit geworden ist, finde ich schon mal toll, denn in letzter Zeit ist es eigentlich bedeutend ruhiger für die Gehörlosen geworden.
Die Zeiten sind für sie normaler geworden, mit Möglichkeiten, die vor einer Generation überhaupt nicht zu ahnen waren. Es liegt jetzt, wie bei jeder Minderheit, auch weiter in den Händen der Betroffenen, dass sie das Erreichte ausbauen, erhalten und damit die Zukunft für die gesamte Gruppe sicherstellen. Und das meine ich auch vor dem Hintergrund- ich spreche das mal so deutlich an- dass eigentlich die medizinische Schiene nach wie vor eigentlich eine Grauzone ist.
Also zu unserer Zeit, als es anfing in den 80er Jahren, wurde in der Früherziehung die Weichenstellung von den HNO-Ärzten vorgenommen. Die Eltern kamen mit ihrem Kind so nach ein, zwei Jahren dorthin, wenn das irgendwie nicht klappte und das Kind nicht auf Laute oder Geräusche reagierte. Dann wurde „Gehörlosigkeit“ oder „an Gehörlosigkeit grenzende Taubheit“ festgestellt und dann legten die Mediziner den Eltern die oben beschriebene Deutsche, also die rein orale Methode nahe: „Bloß nicht gebärden, alles auf Lautsprache setzen, das ist wichtig!“ Und dann haben die Eltern das gemacht, zu dem Nachteil des Kindes meistens, und für sie war das natürlich auch sehr stressig. Und nach fünf oder sechs Jahren, als es in die Schule ging, war nichts mit Sprechen und Ablesen in einer Weise, die man eigentlich bräuchte, um sich in der hörenden Welt einigermaßen normal wenn auch auf niedrigem Niveau zu verständigen. Und dann kam immer die Klage: „Warum hat uns das mit der Gebärdensprache keiner vorher gesagt?“ Na gut, vorher ging es nicht! In den 60er und 70er Jahren war das eben überhaupt noch nicht etwas Positives, sondern etwas Negatives. Die Umwandlung des Minuszeichens bei der Gebärdensprache in ein Pluszeichen brauchte seine Zeit, die Zeit der linguistischen Erforschung und Argumentation.
Und dann kam die Zeit mit den qualifizierten Gehörlosen auf, die quasi durch ihr Auftreten mit Dolmetschern schon bewiesen: „Ich bin ein ganz normaler, vielleicht an einigen Punkten sogar clevererer Typ als jemand der oral argumentiert, wenn ich nur meiner Gebärdensprache zugelassen werden.“
Das ist also eine recht komplexe Sache und um mal auf den Anfang deiner Frage zurück zu kommen, für deren Beantwortung ich wieder nach meiner Art einen langen einsammelnden herumschweifenden Weg gegangen bin: Am Zentrum und späterem Institut für Deutsche Gebärdensprache wurden dann ja auch die Studiengänge etabliert und mehrere Planstellen und damit war die ganze Sache über den Berg. Damit war also ein sicheres Fundament für die Entwicklung in allen anderen Bereichen gegeben, und das bis heute.
Mein Kompliment gilt auch den Beraterinnen in den Bundesministerien für Technologie, Forschung, Familie und Arbeit -es waren meistens Frauen, die ich dort als Ansprechpartner hatte. Und mein Kompliment geht auch an die DFG und alle anderen Stellen ohne deren Aufgeschlossenheit wir nie all die Großprojekte hätten umsetzen können, die wir in den 25 Jahren gemacht haben. Und dabei zeigte sich auch immer: Mehr als jedes theoretisches Argument führten Filme oder der direkte Kontakt zum Zentrum in Hamburg zum Erfolg. Die Referenten der Behörden bzw. Ministerien wurden von der oralen Seite ja ziemlich mit Kritik bedrängt, wenn sie unsere Arbeit unterstützten. In dieser Zeit musste ich also immer auch an den Wochenenden in maßvollem Behördendeutsch alle kritischen Fragen beantworten. Ich habe dann immer zur Mäßigung geraten, weil es uns nichts bringt, wenn da ein großer Kampf eskaliert. Im Gegenteil: Es kam darauf an, dass die andere Seite ein Stück weit mehr nachvollziehen oder akzeptieren konnte, was wir wollten. Also, ohne die Behörden wäre die Gründung des Zentrums bzw. Instituts und das Engagement der Hamburger Universität gar nicht möglich gewesen.
Und nach ca. 15 Jahren kam dann der Deutsche Gehörlosenbund dazu: Nicht zuletzt mit Uli Hase, aber auch mit den anderen Präsidenten, die mit uns im Schulterschluss von den fachlichen Arbeiten an der Universität nur profitieren konnten.
Und dann die Ausdehnung in andere Bundesländer: das Engagement vom Land Berlin an der Humboldt-Universität, wo Horst Ebbinghaus und auch unser Professor für Gehörlosenpädagogik aus Hamburg, Klaus Günther, die Gebärdenspracharbeiten etablierten. Aber auch vorher konnten sich schon mit Jens Heßmann und Regina Leven in Potsdam die Gebärdensprache und Gehörlosen ein Stück weit etablieren. Das einzige, was ein bißchen enttäuschend war, war, dass sich in München in dieser Beziehung kaum etwas entwickelte. In Frankfurt gab es dann mit Prof. Helen Leuninger einen weiteren Standort, der sich für die DGS interessierte, und auch an der Aachener Hochschule, -und so ging das dann weiter bis an ein halbes Dutzend Stellen bundesweit.
Es ist auch vielleicht nicht ganz selbstverständlich, dass sich das Hamburger Institut in diesen Sachen sehr stark engagiert hat für die anderen Regionen, dass dort eine -in Anführungsstrichen- „Konkurrenz“, entsteht. Aber es kommt nicht auf ein Monopol oder auf Hamburg an, sondern es kommt darauf an, dass dieser Ansatz der Gebärdensprachforschung, der Gebärdensprachlehre und der Dolmetscherausbildung und des Studiums Gehörloser- letzterer ist ein ganz wesentlicher Baustein- dass das in möglichst vielen Stellen in Deutschland möglich wird. Und das ist der Fall, es gibt meines Wissens keine finanziell-rechtlichen Probleme mehr bei der Dolmetscherbeanspruchung für ein Studium eines Gehörlosen an einer deutschen Universität. Das war früher ganz anders, nämlich so gut wie unmöglich, unter dem finanziellen Gesichtspunkt und auch, weil es früher noch gar keine Dolmetscher gab, bzw. die Gebärdensprache gar nicht als etwas Positives erkannt werden konnte.
Das ist so das, was mir zum Thema „Zentrum/ Institut für Deutsche Gebärdensprache“ einfällt. Und zum Abschluss noch eine Frage: Wer hätte es vor 30 Jahren für möglich gehalten, dass einmal ein Gehörloser als Professor dem Hamburger Universitätsinstitut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser vorstehen würde?
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Übersetzung: Britta Harms und Michaela Matthaei