Erster Kontakt mit Gebärdensprache
Wie ich auf die Gebärdensprache aufmerksam wurde (mit Ton) (Prof. Dr. Siegmund Prillwitz, 2012)
Übersetzung
Interviewer Stefan Goldschmidt:
Du hast ja früher in der Gehörlosenschule gesehen, dass in den Klassenzimmern nicht gebärdet werden durfte. Auf dem Pausenhof unterhielten sich die Kinder hingegen lebhaft in Gebärden. Die Gebärdensprache war damals ja noch nicht anerkannt und wurde verpönt. War dieses Erlebnis der konkrete Impuls, dich diesem Thema anzunehmen oder gab es noch weitere Einflüsse?
Prof. Dr. Siegmund Prillwitz:
Also das war schon ein ganz wichtiger Punkt. Aber eigentlich bin ich ja durch diese Literaturarbeit auf das Thema gekommen. Vorher hatte ich keinen Kontakt zu Gehörlosen und zur Gebärdensprache, weder in der Verwandtschaft noch sonst und auch nicht als Sprachwissenschaftler. Gegenüber der Gebärdensprache war ich auch weitgehend diesem Vorurteil erlegen: „Ja, das ist wohl so ein Behelfsmittel, um irgendwie etwas visuell mitteilen zu können.“
Als ich aber dann diese ganzen Sachen gelesen habe, und dann auch mit Gehörlosen wie Heiko Zienert oder später auch mit dir (zum Interviewer Stefan Goldschmidt) und Alexander von Meyenn zusammen gearbeitet habe, habe ich gesehen, dass die Gehörlosen etwas konnten, was ich nicht beherrschte, nämlich die Gebärdensprache. Und dann habe ich mit ihnen diskutiert, wie sich das mit der Grammatik der Gebärdensprache und dem Lexikon usw. verhält. Na jedenfalls, ich wollte einfach wissen: „Was ist das eigentlich?" Also zum Einen die Frage nach der Gebärdensprache aber dann auch: „Wie ist die Lebenssituation der Gehörlosen?“
Es fing an mit einer Familienuntersuchung, die im BELTZ-Verlag erschienen ist. Dafür haben wir in Familien mit gehörlosen Kindern in den ersten fünf Lebensjahren bis zum Schulbeginn untersucht, wie die Verständigung abläuft. Und das war ziemlich erschreckend zu sehen, was da alles nicht lief. Dann sind Rolf Schulmeister, Hubert Wudtke und ich- wir waren ein Dreierteam auf der Hörendenseite- in die Gehörlosenschule in der Hammer Straße hier in Hamburg gegangen sind, um uns dort den Unterricht anzugucken. Wir wurden dabei von Professor Kröhnert unterstützt, der uns da die Tore geöffnet hatte. Und dann haben wir eben das gesehen, was du in deiner Frage eben beschrieben hast: In der Klasse angestrengte gehörlose Kinder, die sich wirklich Mühe gegeben haben, um mit dem Ablesen, Nachsprechen und Artikulieren usw. irgendwie zu recht zu kommen. Um Wissen ging es dabei eigentlich gar nicht, sondern es ging immer nur um diese paar Laute, die man dann zu bestimmten Wörtern zusammen setzte und zu verbessern versuchte. Und wie gesagt, wenn das Lichtzeichen zur Pause blinkte- da war man schon soweit, dass man den Gehörlosen keine akustische Klingel servierte -, waren die Kinder wie ausgetauscht.
Draußen auf dem Pausenhof haben wir damals mit einem Herrn Dr. Stumm (der hieß wirklich so) ein Video gedreht. Er hatte einen Medienpreis gewonnen und wollte das Geld nun wieder in einen Film investieren. Der Film heißt „Die Sprache der Hände“, ist im SIGNUM Verlag erschienen und dauert ca. 20 Minuten. Im Vor-und Abspann sind diese Pausengespräche der Kinder zu sehen, die im Winter gefilmt wurden. Und da sieht man also die gehörlosen Kinder mit Fingerhandschuhen gebärden, zum Teil mit Lollies im Mund.
Ich habe davon nichts verstanden. Für mich war das genauso, wie wenn man als Hörender Chinesisch oder Japanisch oder eine andere Fremdsprache hört, die man nicht versteht: Da hört man auch nur Laute, kriegt aber nicht einmal mit, wo ein Satz überhaupt anfängt und zu Ende ist und worum es geht. Und genau so ging es mir in dem Moment auch. Ich merkte nur, dass die voll dabei waren, sich verstanden und wie ausgetauscht waren gegenüber diesem mühsamen Radebrechen an Ablesewörtern und artikulierten Wörtern im Unterricht.
Das war die sog. „Deutsche“ Methode, die über ein Jahrhundert weltweit und ganz besonders in Deutschland bis in die 1980er Jahre die schulische Praxis war. Man kann den Pädagogen eigentlich gar keinen Vorwurf machen, denn in ihrer Ausbildung damals hatten sie ja kaum etwas von Gebärdensprache erfahren, und wenn dann nur Negatives, was ihre Vorurteile, mit denen sie groß geworden waren, nur verstärkte. Diese Vorurteile abzulegen, eine neue Sprache zu erlernen und diese im Unterricht dann auch zu praktizieren, da hätte man schon sehr viel investieren müssen und ein Genie sein müssen, um das zu schaffen. Deshalb waren die Lehrer keine Sadisten oder so. Sie versuchten ja, den Kindern etwas beizubringen und etwas Gutes zu tun. Eigentlich waren die in einer ähnlich schlimmen Situation wie ihre Schüler, vor allem als dann klar wurde, dass die Kinder eine eigene Sprache haben und der Unterricht auf einem ganz anderen Niveau ablaufen könnte, wenn man die Gebärdensprache als Lehrer beherrschen und einsetzen würde.
Und das war dann der Impuls dazu, dass wir - und mit „wir“ meine ich die Gehörlosen und die Personen, die in der Forschung und in der Entwicklung von Unterrichtsmaterialien tätig waren, möglichst schnell die betroffenen pädagogischen Personen mit ins Boot holen mussten und ihnen eine Möglichkeit geben mussten, an diese Sprache heranzukommen. Und da war mein Ratschlag immer: „Den besten Lehrer habt ihr eigentlich in eurer Klasse sitzen.“ Denn auch die gehörlosen Kinder hatten ja spätestens in der Schule auch Kontakt zu Mitschülern mit gehörlosen Eltern. Die waren zumeist mit der DGS groß geworden und durch sie haben sich die anderen gehörlosen Kinder ziemlich schnell einen Großteil der Deutschen Gebärdensprache angeeignet. Meine Idee war immer: „Mensch, warum dreht man nicht jeden Tag mal für eine halbe Stunde den Spieß um und lässt sich von den Schülern sagen, wie bestimmte Texte, die im Unterricht gelesen und bearbeitet werden, gebärdet werden können. Die gehörlosen Kinder könnten mir erklären, aus welchen Zeichen so ein gebärdeter Text besteht und dann könnte ich mit geschriebenen Wörtern dazu kommen.“
Diese Mischung, diese Durchlässigkeit im pädagogischen Konzept war mir wichtig: Nicht als Lehrer „oben“ als König und Alleswisser zu stehen und „unten“ die kleinen, ausgetrockneten, lernbegierigen Kinder zu haben sondern dass man sich wechselseitig etwas gibt und bekommt. Aus meiner Erfahrung hatten diejenigen Lehrer den meisten Erfolg, die diese menschliche Größe hatten, sich neben die Kinder zu setzen und nicht immerzu das Gefühl hatten: „Ich muss denen was eintrichtern oder etwas beibringen“. Und diesen Erfolg haben sie nicht nur, weil sie sich besser mit den Kindern verständigen können, sondern weil die Kinder natürlich auch total begeistert waren, wenn ihre geliebte Lehrerin oder ein anerkannter Lehrer (-die Kinder schätzten ja die Pädagogen durchaus-) auf einmal ihre Gebärdensprache, die doch immer so verpönt war, positiv sahen und sich auf dieser Ebene mit ihnen einließen, von ihnen sogar etwas lernen konnten und die Schüler im Tausch dafür vielleicht noch eine viel bessere Schrift- und Sprechsprache entwickeln konnten. Das war immer meine Empfehlung.
Die lässt sich von außen natürlich immer recht einfach geben, kostet aber natürlich auch viel Arbeit und auch ein Stück Veränderung der eigenen Grundeinstellung. Denn seine Einstellung muss man als sog. „Behindertenpädagoge“ wahrscheinlich ändern, weil man dann nicht mehr in erster Linie „behinderte“ Kinder sondern „anderssprachige“ Kinder vor sich hat, oder eben „zusätzlich beeinträchtigte Kinder“, wenn z.B. noch eine Sehschädigung vorliegt, denn oft ist es ja nicht nur die Hörschädigung. Aber das war ja früher in der Pädagogik nie das Problem: Mehrfach behinderte gehörlose Kinder- mit denen durfte man schon immer! Ein bisschen dem Leitsatz folgend, der dann immer kam: „Na, da kann man ja nichts verderben, mit der Lautsprache klappt’s sowieso nicht.“ Und wahrscheinlich lag es auch daran, dass die Gebärdensprache eigentlich völlig falsch eingeschätzt wurde, nämlich nur als Minimalverständigung und gar nicht als das, als das sie sich jetzt weltweit bewiesen hat, nämlich als vollwertiges Zeichensystem mit einer sehr komplexen Grammatik und mit einem Lexikon, das unendlich ausdifferenzierbar ist und bestimmten Regeln folgt.
Diese wissenschaftliche Anerkennung der Gebärdensprache war der große Verdienst der gemischten Teams von Gehörlosen und Hörenden, und zwar nicht nur in einem einzelnen Land wie Schweden, Deutschland oder die USA sondern weltweit auf allen Kontinenten. Ende der 80er Jahre haben wir dann ja mehrere internationale öffentlichkeitswirksame Kongresse im Hamburger CCH veranstaltet, um die Aufklärung bei Medien, Politik, Eltern und den Berufsverbänden voranzutreiben, ohne das hätte sich ja nichts verändert. Davon gibt es ja noch Filmmaterial und es war schon faszinierend zu sehen, dass dabei ein gutes Dutzend Dolmetscher vorn auf der Bühne saßen und jeden Redner dort oben, egal ob gehörlos oder hörend, in die jeweilige nationale Gebärdensprache zu übersetzen versuchte.
Das waren alles wichtige Dinge und rückblickend muss ich einfach sagen, auch als Kompliment an die hörenden und gehörlosen Mitarbeiter von damals: Man hätte eigentlich zu keinem Zeitpunkt erwarten können, dass sich die Situation für Gehörlose und ihre Gebärdensprache so schnell so massiv verändert wie das weltweit, nicht nur in Deutschland, in den letzten 30 Jahren der Fall gewesen ist. Und ganz besondere Anerkennung gilt dabei den Gehörlosen, die ja da eine Bühne betreten hatten, auf der sie vorher nie zugelassen waren: Studium, Forschung, Lehre- auf einmal gab es gehörlose Lehrer für gehörlose Kinder- anspruchsvolle Berufsausbildungen usw.
Und all das hat relativ wenige Verwerfungen zur Folge gehabt. Oft heben die Leute ja auch ab, wenn sich ihnen auf einmal eine ganz neue Dimension eröffnet und so war’s ja für die Gehörlosen. Aber die Gehörlosenszene, gerade im universitären Bereich, war eigentlich sehr diszipliniert und angestrengt im inhaltlichen Arbeiten und hat es gleichzeitig geschafft, all das nicht nur für die eigene Karriere zu machen, sondern das gleich als Umsetzung für die eigene Sprachgemeinschaft weiter zu tragen, d.h. Kurse zu entwickeln und Gehörlosenlehrer und Eltern in Gebärdensprache zu unterrichten und sich auch auf so ein Zwischenkonstrukt wie Lautsprachbegleitendes Gebärden einzulassen.
Das Thema LBG war eigentlich das Schwierigste, aber es war notwendig wie eine Art Scharnier, als ein Übergang für die Hörenden, gerade Pädagogen und Eltern, damit sie nicht einfach auf einmal das Gefühl hatten, sie seien die Sprachbehinderten und sprachlos. Dieses Problem musste irgendwie aufgelöst werden und darüber hat es einen langen Streit gegeben, bei dem auch Fragen wie: „Was ist LBG, also lautsprachbegleitendes Gebärden?“ und „Was ist echte DGS?“ aufgeworfen wurden. Aber auch das waren konstruktive Auseinandersetzungen und sind es zum Teil heute noch.
Das Ganze ging Schritt für Schritt voran und ich denke, es wäre auch in der Wissenschaft und Forschung und auch in der pädagogischen Praxis nicht so schnell und kontinuierlich voran gegangen, wenn die Gehörlosengemeinschaft sich nicht politisch organisiert hätte. Das hat sie getan, stärker als vorher. Und sie hat sich auch befreit aus der Vormundschaft noch so netter und engagierter Hörender: Wenn ich so an die Zeit zurück denke, in der Uli Hase Demonstrationen für „Gebärdensprache ins Fernsehen“ anführte und sich die Gehörlosengemeinschaft dafür eingesetzt hat, dass bei „Sehen statt Hören“ ein Gehörloser die Moderation übernimmt und nicht wieder Hörende in einer Gehörlosensendung die Gehörlosen zu bedienen versuchen. Also was da alles gelaufen ist, ist schon faszinierend.
Ich wünsche mir eigentlich immer, wir hätten in dieser Zeit einen Chronisten gehabt, der Stück für Stück alles aufgezeichnet hätte, denn im Nachhinein kriegt man das alles gar nicht mehr so richtig zu fassen. Aber wir haben doch etwas Ähnliches: „Das Zeichen“, eine dicke bebilderte Quartalszeitschrift, die immer noch herausgegeben wird. Darin sind diese Entwicklungen um diese Streitpunkte und die Diskussionen sehr solide und umfänglich abgebildet und sehr schön aufgemacht. Das ist das Lebenswerk von Karin Wempe bis heute und hoffentlich noch weitere Jahrzehnte. In anderen Ländern gibt es so eine Zeitschrift in dieser ausführlichen und qualitativen Form eigentlich selten. Leider sind die frühen Bände alle schon vergriffen, aber in Bibliotheken stehen sie ja noch. Darin kann man viele Dinge wieder aufdröseln und zurück verfolgen, wie sich eine bestimmte Diskussion in der Szene dargestellt hat, in Deutschland aber auch international. Das wäre mein Tipp, wer da wirklich was Genaueres wissen möchte, sollte sich im „Zeichen“ mal durch die Jahrzehnte blättern. Jedes Jahrzehnt hat ein Inhaltsverzeichnis und wer sich für einen bestimmten Bereich interessiert, z.B. Schule, Kindergarten oder Forschung, Sprachpolitik und vieles andere mehr, kann dort mal nachlesen, wie sich so eine Entwicklung über 10, 20, 30 Jahre vollzogen hat.
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Übersetzung: Britta Harms und Michaela Matthaei