Erweiterung (1870 - 1918)
Erweiterung (1870 - 1918) (Helmut Vogel, 2008)
Übersetzung
Bis 1870 wuchs die Zahl der Gehörlosenvereine in Deutschland beträchtlich an. Fürstenberg erkannte die Notwendigkeit eines überregionalen Austauschs zwischen Gehörlosen und veranstaltete deshalb im Jahr 1872 in Berlin den ersten deutschen Gehörlosenkongress. Zahlreiche hochrangige Vertreter von Gehörlosenvereinen nahmen an dieser Veranstaltung teil. Der Kongress fand bei den Teilnehmern soviel Anklang, dass er von nun jährlich stattfand, später nur noch alle drei Jahre, an verschiedenen Orten innerhalb des deutschen Reiches.
Man beriet über aktuelle Themen aus den Vereinen, zu Gehörlosenbildung, Gebärdensprache und vielem Anderen mehr.
Unter den Anwesenden befand sich auch der (gehörlose) Hamburger (John E.) Pacher, der zu dieser Zeit den Vorsitz im Hamburger Gehörlosenverein inne hatte. Pacher spielte im Zuge der zunehmenden lautsprachlich ausgerichteten Beschulung gehörloser Kinder eine wichtige Rolle. Die gehörlosen Erwachsenen beobachteten den methodischen Wandel an den Gehörlosenschulen mit großer Sorge: Nachdem die Lehrer die Gebärdensprache aus ihrem Unterricht verbannt hatten und die Kommunikation im Klassenzimmer nur noch lautsprachlich ausgerichtet war, sanken die schulischen Leistungen der Kinder drastisch ab. Pacher nahm diese Entwicklung ernst und verfasste eine Massenpetition, die er im ganzen deutschen Reich verschickte und für die er Unterschriften sammelte. Darin forderte er die Rückbesinnung der Gehörlosenschulen auf die „kombinierte Methode“, bei der der Unterricht in Gebärden- und Schriftsprache abgehalten wurde. Insgesamt unterschrieben ungefähr 800 Personen, hörende und gehörlose, darunter zahlreiche Mitglieder von Gehörlosenvereinen. Pacher schickte diese Petition dem deutschen Kaiser, doch leider ohne den gewünschten Erfolg: Das Kultusministerium wies Pachers Forderungen mit der Begründung ab, dass sich die orale „deutsche Methode“ unter Ausschluss der Gebärdensprache bereits über längere Zeit als sinnvollere Methode in der Ausbildung gehörloser Kinder bewährt habe. Da auch in vielen anderen Ländern der Oralismus an Gehörlosenschulen auf dem Vormarsch war, war man sicher, richtig zu handeln.
Für Pacher war diese Antwort ein schwerer Schlag. Dennoch nahm er weiterhin engagiert an den Gehörlosenkongressen teil und pflegte den Austausch zu anderen Gehörlosen. In der Zeit zwischen 1900 und 1910 schlossen sich die einzelnen regionalen Gehörlosenverbände zu überregionalen Landesverbänden zusammen, um politisch stärker auftreten zu können. Bald darauf entstand der Wunsch nach einer noch größeren, reichsweiten Vernetzung. Die Überlegungen zur Gründung solch eines Dachverbands für Gehörlose dauerten bis zum Beginn des ersten Weltkrieges an und wurden insbesondere während der zweijährlich stattfindenden Gehörlosenkongresse vorangetrieben.
Um 1890 bildeten sich vor dem Hintergrund der neu entstandenen Turnvereine auch die ersten Gehörlosen-Sportvereine, in denen zunächst ausschließlich das damals sehr moderne Turnen betrieben wurde. Es war keine Seltenheit, dass gehörlose Turner auch an den Turnfesten hörender Sportler teilnahmen. Bald eröffneten die Gehörlosen-Sportvereine auch weitere Sparten, wie Schwimmen und Fußball. Hinzu kamen auch die ersten Gehörlosen-Theatergruppen und weitere Interessensgruppen, sodass das kulturelle Angebot für Gehörlose im deutschen Reich immer vielfältiger wurde.
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Übersetzung: Britta Harms und Michaela Matthaei