Umbruch (1918 - 1945)
Umbruch (1918 - 1945) (Helmut Vogel, 2008)
Übersetzung
Die Zeit nach dem ersten Weltkrieg war geprägt von großen politischen Umwälzungen. Die kaiserliche Monarchie wurde von der Weimarer Republik mit einer parlamentarischen Demokratie abgelöst. Die Parteien waren zerstritten, die Stimmung im Deutschen Reich gedämpft durch Inflation und hohe Arbeitslosenzahlen. Die Gehörlosen suchten in Berlin bei den Parteien und im Parlament nach Aufmerksamkeit und Unterstützung, doch ihr Wunsch nach politischer Teilhabe und verbesserter Information wurde dort nicht wahrgenommen. Die Gehörlosengemeinschaft beließ es bei diesen Bemühungen und nahm Abstand von weiteren Anläufen, politisch gehört zu werden. Erst 1927 wurde mit der Gründung des „Reichsverbands der Gehörlosen Deutschlands“ (ReGeDe) ein neuer Meilenstein in der Geschichte der Gehörlosenbewegung gesetzt.
Der ReGeDe hielt in seinen Schriften fest, dass die Bezeichnung „taubstumm“ nicht mehr zeitgemäß sei und stattdessen das bis heute gebräuchliche Wort „gehörlos“ zu verwenden sei. Der ReGeDe verpflichtete die einzelnen Landesverbände der Gehörlosen, sich ihm anzuschließen, sodass er als Dachverband alle Gehörlosen im Deutschen Reich vertreten konnte. Auf diese Weise konnte ein größerer politischer Einfluss ausgeübt werden, um die Situation der Betroffenen zu verbessern. Diese Entwicklung war für die Gehörlosengemeinschaft eine große Erleichterung. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise 1929 wurde die Lebensqualität der Gehörlosen jedoch stark eingeschränkt. 1930 und 1931 boten Massenarbeitslosigkeit und drohende Armut Grund zu großer Sorge. Der ReGeDe reagierte darauf, indem er im Jahr 1932 den Aufklärungsfilm „Verkannte Menschen“ produzieren ließ. Dieser Film lieferte wertvolle Einblicke in das Alltagsleben Gehörloser, z.B. in der Schule und Kirche, in Vereinen und bei der Arbeit. Er sollte der Gesellschaft zeigen, dass Gehörlose durchaus leistungsbereit und belastbar sind und als wertvolle Arbeitskräfte eingesetzt werden können. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 wurde der Film jedoch verboten, da seine Inhalte nicht mit der nationalsozialistischen Rassenideologie übereinstimmte, in der gehörlose Menschen als minderwertig betrachtet wurden.
Im Zuge der Gleichschaltung innerhalb der Nazi-Diktatur wurde der ReGeDe seiner demokratischen Verbandsstruktur beraubt und der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ (NSV) unterstellt, die von nun an eine strenge Kontrolle ausübte und sowohl über die Inhalte als auch die personelle Besetzung des Verbands entschied. Während dieser Zeit wurde alle drei bis vier Jahre der „Gehörlosen-Tag“ veranstaltet, ein Treffen, zu dem alle Gehörlosen aus dem deutschen Reich eingeladen wurden, und das wie alle anderen Veranstaltungen, wie z.B. Gehörlosen-Sportfeste, unter massivem Einfluss der nationalsozialistischen Gesinnung stand.
Kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs wurde der ReGeDe als Organisation der Gehörlosen aufgelöst. Die gehörlosen Mitglieder wurden mit Schwerhörigen in einer der NSV unterstellten Organisation mit aufgenommen. Die regionalen Gehörlosenvereine blieben jedoch bestehen.
Für die Gehörlosengemeinschaft war das dritte Reich eine Schreckenszeit. Zahlreiche jüdische und nichtjüdische Gehörlose ließen in den Kriegswirren ihr Leben oder fielen dem Holocaust zum Opfer. Darüber hinaus wurden etliche als „erbkrank“ eingestufte gehörlose Männer und Frauen zwangssterilisiert, um die Verbreitung der erblich bedingten Gehörlosigkeit zu unterbinden.
Weitere Informationen zur Gehörlosengemeinschaft im dritten Reich finden Sie im Kapitel „Gehörlose in der Zeit des Nationalsozialismus“.
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Übersetzung: Britta Harms und Michaela Matthaei