Vereinsgründungen (vor 1870)
Vereinsgründungen (vor 1870) (Helmut Vogel, 2008)
Übersetzung
In der Zeit zwischen 1770 bis 1850 waren Gehörlose noch nicht in Gruppen organisiert. Kontakte zu anderen Gehörlosen fanden in den Gehörlosenschulen, beim sonntäglichen Gehörlosengottesdienst und in Form von privaten Kontakten statt.
Von 1848 an durfte in Deutschland von dem neuen Vereinsgründungrecht Gebrauch gemacht werden. 1848 gründeten Gehörlose in Berlin den ersten deutschen Gehörlosenverein, den „Lokalverein“. Zahlreiche Gehörlose aus der Region traten diesem Verein aus dem Bedürfnis nach regelmäßigerem Austausch bei. Der Verein diente dem geselligen Miteinander und durch die Mitgliedsbeiträge konnten gemeinnützige Anschaffungen erworben werden. Es gab auch eine Vereinssatzung, in der die Höhe der Mitgliedbeiträge und die Durchführung der Wahlen geregelt war.
Ein anderer wichtiger Vereinszweig begann 1849 mit der Gründung des sog. „Zentralvereins“. Dies war der erste Förderverein für Gehörlose der sich überwiegend aus hörenden Mitgliedern zusammensetzte und mithilfe der Mitgliedsbeiträge und Spenden die Gehörlosengemeinschaft gezielt finanziell unterstützte.
Die Gründung von Gehörlosenvereinen war jedoch nicht nur auf Berlin beschränkt. Bis 1870 entstanden an vielen anderen Orten Deutschlands ebensolche Vereine.
Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der Gehörlosenbewegung ist das Jahr 1867. In diesem Jahr schuf Eduard Heinrich Fürstenberg in Berlin das erste sog. „Kirchfest“. Fürstenberg arbeitete als Beamter im Ministerium und bekleidete dort einen angesehen Posten in der Verwaltung. Nebenher engagierte er sich in der Freizeit auf beachtliche Weise im Vereinsleben der Gehörlosen.
Fürstenberg war berufsbedingt mit juristischer Fachsprache und zahlreichen Gesetzestexten vertraut und er beherrschte auch einige Fremdsprachen.
Als herausragender Unterstützer der Gehörlosen in Berlin, entwickelte er mit der Einstellung eines gehörlosen Pfarrers die Ausrichtung eines „Kirchfestes“. Es wurde ein voller Erfolg: Zahlreiche Gehörlose reisten voller Vorfreude aus nah und fern an, um dieses Angebot wahr zu nehmen. Von nun an wurde in Berlin jedes Jahr ein Kirchfest veranstaltet, an dem durchschnittlich 1500 Gehörlose teilnahmen, eine für damalige Zeiten beeindruckend große Gästeschar. Mit den Kirchfesten bot sich Gehörlosen erstmals ein feierlicher kommunikativer Rahmen, in dem man mit alten Bekannten plaudern und neue Kontakte aufbauen konnte.
Während eines Kirchfestes stellte sich auch immer der Zentralverein den versammelten Gästen vor und berichtete über dessen Gründung und aktuelle Entwicklungen. Wie gewünscht, fand die Gründungsidee motivierte Nachahmer, sodass es bald zahlreiche neu gegründete Gehörlosenvereine in Deutschland gab. Es war ein regelrechter Gründungsboom, der die Gehörlosengemeinschaft erfasste.
Inzwischen schmiedete Fürstenberg in Berlin den nächsten Plan, um die Information und Kommunikation in der Gehörlosengemeinschaft nach vorn zu bringen, eine Gehörlosenzeitschrift. 1872 erschien die erste Ausgabe von „Der Taubstummenfreund“, eine Zeitschrift, die Mitteilungen und Berichte von Gehörlosenvereinen sowie verschiedene Neuigkeiten, die für gehörlose Leser relevant sein dürften, umfasste.
Der „Taubstummenfreund“ war ein informatives und überregionales Organ für Gehörlose und zugleich ein wichtiges Mittel, um innerhalb der Gemeinschaft in Verbindung zu bleiben.
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Übersetzung: Britta Harms und Michaela Matthaei